Krieg in Europa - Kühlen Kopf bewahren!

Kühlen Kopf bewahren!
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Hört nicht auf die Person, die Antworten hat, hört auf die Person, die Fragen hat.
      Albert Einstein

Krieg in Europa


Putins Mission: „Eine neue Welt errichten

Die erste Oktoberwoche 2023 hat es weltpolitisch in sich gehabt: In den USA wurde erstmals in der Geschichte dieses Landes der Speaker des Repräsentantenhauses seines Amtes enthoben und damit die Arbeit desselben lahmgelegt, auf dem Parteitag der britischen Konservativen, der Tories“, wurde deutlich, dass diese Partei inzwischen weit nach rechts abzudriften droht (vgl. hierzu meinen Artikel Was bedeutet  konservativ?“ auf der Seite Politik und Gesellschaft), auf dem informellen EU-Gipfel im spanischen Granada blockiert Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban zusammen mit Polen den kurz zuvor gefundenen Kompromiss zur Eindämmung illegaler Migration nach Europa und verbindet dies mit der Ankündigung, weiteren Hilfen für die Ukraine die (unbedingt nötige) Zustimmung versagen zu wollen, und letztlich bekommen wir auch noch von Wladimir Putin eine neue Version zur Rechtfertigung seines Angriffskrieges gegen die Ukraine vorgesetzt. Auf das letztgenannte Ereignis will ich nachfolgend näher eingehen:

Auf der diesjährigen Konferenz des Waldai-Klubs in der russischen Schwarzmeer-Stadt Sotschi gab Russlands Präsident Wladimir Putin (wieder einmal) eine neue Version der Rechtfertigung seines Angriffskriegs gegen die Ukraine zum Besten: Seine in weiten Teilen bereits bekannte Kritik am Hegemonie-Streben des Westens verband er mit dem Hinweis, bei seiner Spezialoperation gegen die Ukraine gehe es nicht um einen territorialen Konflikt; sie diene vielmehr der „Festlegung der Grundsätze, auf denen die neue Weltordnung begründet wird“. Er ergänzte dies mit dem Hinweis: Wir haben keinerlei Interesse daran, Territorien zurückzuerlangen.“ Stattdessen beschuldigte er die Regierung in Kiew, diesen Krieg mit Unterstützung der NATO bereits vor zehn Jahren begonnen zu haben. Die militärische Spezialoperation“ sei begonnen worden, um ihn zu stoppen. Zum Stand der Kampfhandlungen erklärte er, Russland schlage sich bisher gut; er habe Grund zu der Annahme, dass dies auch so bleiben werde. Er gab allerdings auch seiner Überzeugung Ausdruck, im Falle der Einstellung der Munitionslieferungen des Westens an die Ukraine habe diese noch „eine Woche zu leben.

Meine Meinung: Zunächst einmal wundere ich mich ein wenig, dass dieser Vorgang anscheinend kaum mediale Beachtung gefunden hat. Berichtet hat über diese Konferenz offenbar der us-amerikanische „Washington Examiner; in Deutschland aufgegriffen haben meiner Online-Suche zufolge diesen Bericht lediglich der „stern“ (s. obigen Link), Focus online, t-online.de, und und „dagens.de“ mit einem auf msn.com veröffentlichten Artikel. Zwei andere Medien haben zu ihm ein 23 bzw. 24 Sekunden langes Video online gestellt. Selbst wenn diese Ignoranz der Flut von (welt-)politischen Ereignissen in dieser Woche geschuldet sein sollte (ich habe oben tatsächlich nur die wichtigsten angesprochen), ist sie angesichts seiner Bedeutung nicht wirklich zu erklären.

Worin liegt diese? Dass Russlands Präsident seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine (auch) als Krieg, wenn nicht gar als einen Feldzug“, gegen den dekadenten Westen“ ansieht, ist nicht wirklich neu. Dass die Ukraine bereits vor zehn Jahren mit Unterstützung der NATO einen Krieg gegen Russland begonnen haben soll, vielleicht schon eher. Wirklich neu ist aber, dass mit diesem Krieg die Festlegung der Grundsätze, auf denen die neue Weltordnung begründet wird“ erfolgt bzw. erfolgen soll. Das muss nicht nur aufhorchen lassen, das muss geradezu erschrecken! Wie hat man sich das bitteschön vorzustellen? Beinhaltet diese „neue Weltordnung“, dass künftig jedes Land, dem die von seinem Nachbarn oder gar einem x-beliebigen Staat gewählte Gesellschaftsordnung nicht gefällt, dieses/diesen nicht nur angreifen, mit Krieg überziehen darf, sondern im Zuge dessen auch Frauen, Kinder und andere unschuldige Einwohner desselben sowie seine gesamte Infrastruktur mit Raketen-, Drohnen-, Artillerie- und sonstigen Angriffen überziehen und im Prinzip alle dort lebenden Menschen mit dem Tod bedrohen darf? Ich jedenfalls sehe mich genötigt, diese Worte Wladimir Putins genau so zu interpretieren. Damit macht er einmal mehr deutlich, dass es ihm um weit mehr geht als um die Zerstörung der Ukraine (auf die Tatsache, dass er diese Absicht leugnet, komme ich gleich noch zurück). Mit dieser Ankündigung gibt er auch den immer wieder vom ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj ausgesprochenen Warnungen neue Nahrung, dass die Ukraine im Falle ihrer Niederlage nicht das letzte von der Russischen Föderation angegriffene Land bleiben werde. Wenn dieser Angriff tatsächlich der Beginn der Errichtung einer neuen Weltordnung sein soll, dann werden andere Länder folgen müssen.

Nicht nur deshalb ist Putins Einlassung völlig unglaubwürdig, es gehe nicht um die Ukraine. Das hat er bereits mit seiner Äußerung konterkariert, diese habe bei einer Einstellung der westlichen Waffenlieferungen noch eine Woche zu leben. Wahrheitsgehalt würde seine Behauptung allerdings sofort erlangen, würde an der richtigen Stelle das Wörtchen nur“ eingefügt werden. Folglich sollte also diese Ankündigung Putins nicht nur bei den Lesern dieses Artikels (und selbstverständlich der Artikel, die sie aufgegriffen und auf die ich hier hingewiesen habe) Beachtung finden, sondern durchaus auch in allen Hauptstädten des „Westens. und aller anderen Länder, die (bis jetzt noch) die Ukraine in ihrem Kampf gegen die Aggression Russlands unterstützen. In dieser Woche ist auch deutlich geworden, dass diese Unterstützung zu bröckeln beginnt (und ich persönlich möchte keinesfalls ausschließen, dass Russland jedenfalls bei einem Teil dieser Entwicklungen mehr oder weniger kräftig mitgeholfen haben könnte). Alle diejenigen, die mit dem Gedanken spielen, die Ukraine nicht länger zu unterstützen, sollten sich genauer überlegen, ob sie tatsächlich in der neuen Weltordnung des Wladimir Wladimirowitsch (Zarewitsch[?]) Putin leben wollen. Putin selbst mag diese neue Weltordnung womöglich nicht mehr erleben können; er wird am Tag der Abfassung dieses Artikels (7. Oktober 2023) 71 Jahre alt. Aber er wird Erben haben; in Russland stehen genügend Hardliner bereit, die nur danach lechzen, sein Werk zu vollenden. Es könnte ein bitterböses Erwachen geben und dann könnte es für lange Zeit sehr schwierig sein, das Rad wieder zurückzudrehen. Was das für die großen Herausforderungen bedeuten würde, vor denen die gesamte Menschheit steht ich ziele hier insbesondere auf die Klimakrise und das noch viel zu wenig beachtete Problem des Artensterbens (Stichwort: Biodiversitätskrise) ab – möchte ich mir lieber nicht ausmalen. Die Welt steht (womöglich schon länger und in vielerlei Hinsicht) an einem Scheideweg; die hier in Bezug genommene Äußerung des Präsidenten der Russischen Föderation hat dies einmal mehr deutlich gemacht. Sie sollte mehr Beachtung finden – sonst hat die Welt womöglich bald noch eine weitere Krise zu bewältigen.


Was passiert gerade in Russland?

Update vom 25.06.2023: Zunächst einmal muss ich zwei Angaben in meinem gestern verfassten Artikel korrigieren: Zum einen war der Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine nicht gestern von 17 Monaten, sondern vor 16 Monaten, und die Verpflichtung zur Unterordnung russischer Söldnertruppen unter den Oberbefehl des Verteidigungsministeriums beruht offenbar nicht wie von mir angenommen und beschrieben auf einem formellen, von der Duma beschlossenen Gesetz, sondern auf einer vom stellvertretenden Verteidigungsminister Nikolai Pankow veröffentlichten Anordnung des russischen Verteidigungsministeriums. Für diese beiden mir in der Hektik des gestrigen Tages unterlaufenen sachlichen Fehler in der Darstellung der Ereignisse bitte ich um Entschuldigung.

Gestern etwa gegen 19.15 Uhr deutscher Zeit die nächste Überraschung an diesem an solchen wahrlich nicht armen Tag: Der belarusische Machthaber Alexander Lukaschenko und Wagner-Financier und -Chef Jewgeni Prigoschin verkündeten über ihre jeweiligen Social-Media-Kanäle nahezu zeitgleich, der Vormarsch der Wagner-Gruppe auf Moskau sei 200 km vor dem Ziel gestoppt worden. Während Lukaschenko dem Vernehmen nach erklärte, er habe Prigoschin davon überzeugen können, dass eine Weiterführung seiner Aktion ein „großer Fehler“ gewesen wäre, ließ dieser verlauten, er habe ein „Vergießen russischen Blutes vermeiden“ wollen, nachdem sein Vormarsch von Rostow am Don aus bisher auf so gut wie keinen Widerstand getroffen sei. Tatsächlich waren offenbar Vorkehrungen getroffen worden, diesen Vormarsch kurz vor Moskau zu stoppen, indem etwa auf der für diesen benutzten Autobahn mit dem Ausheben von Gräben begonnen worden war, die der Wagner-Kolonne eine Weiterfahrt unmöglich machen sollten. Auch waren offenbar auf russischer Seite Vorbereitungen für sich möglicherweise am Stadtrand Moskaus entwickelnde Kämpfe getroffen worden; so hatte etwa der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin den kommenden Montag zu einem arbeitsfreien Tag erklärt und die Menschen aufgefordert, an diesem in ihren Häusern zu bleiben (wie der ORF am Sonntagmorgen meldet, bleibt diese Anordnung auch nach der eingetretenen Entspannung der Lage in Kraft).

Sofort wurde spekuliert, was für einen Deal Prigoschin abgeschlossen haben könnte; nahezu alle Korrespondent/innen und Kommentator/innen gingen davon aus, dass er unmöglich ohne Gegenleistung seinen Vormarsch auf Moskau gestoppt haben würde. Am späteren Abend verkündete dann der Sprecher Wladimir Putins, Dmitri Peskow, die Details: Prigoschin wurde Straffreiheit zugesichert; er solle sich nach Belarus zurückziehen. Auch den an der Aktion beteiligten Wagner-Kämpfern wurde Straffreiheit zugesichert. Diese Vereinbarung soll der belarusische Machthaber Lukaschenko mit Prigoschin getroffen haben Wladimir Putin ist diesen Angaben zufolge erst im Nachhinein über diesen Deal informiert worden (andere Quellen berichten allerdings, er sei an den Verhandlungen beteiligt gewesen). Inzwischen haben sich die Wagner-Truppen offenbar auch aus Rostow am Don komplett zurückgezogen.

Was bleibt? Zunächst einmal ein massiv angeschlagener russischer Präsident Wladimir Putin da sind sich alle Berichterstatter/innen aus der Region und auch alle Expert/innen weitgehend einig. Der Nimbus des Unbesiegbaren, des Beschützers der Nation und der in ihr lebenden Menschen ist dahin. Wie will er seinen Bürgern erklären, dass es den Truppe Prigoschins in gerade einmal 12 Stunden (!) gelingen konnte, von Rostow am Don 800 Kilometer weit bis 200 km vor Moskau zu gelangen, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen? Auch seine Glaubwürdigkeit, das Bild des starken, unbeugsamen Herrschers dürfte erheblichen Schaden genommen haben: Hatte er noch am Vormittag persönlich im staatlichen Fernsehen erklärt, Prigoschin und seine Mitstreiter seien Verräter und müssten aufs Härteste bestraft werden, so musste er am selben Abend seinen Sprecher für diese „Verräter“ Straffreiheit verkünden lassen (der dies noch mit der Mitteilung ergänzte, der Präsident werde sich hierzu nicht noch einmal persönlich äußern). Hinzu kommt noch, dass er diesen Deal“ noch nicht einmal selbst abgeschlossen hat, sondern der eigentlich von ihm verachtete Lukaschenko (schließlich ist der in seinem Heimatland streng genommen nur noch durch Putins massive Einflussnahme an der Macht) ihm diesen allem Anschein nach buchstäblich vor die Nase gesetzt hat. Und auch in einem weiteren Punkt sind sich die Beobachter/innen weitestgehend einig: für die Moral der in der Ukraine kämpfenden russischen Soldaten, die zum Teil nicht einmal wirklich wissen, wofür sie eigentlich kämpfen, dürften diese Vorgänge alles andere als förderlich sein.

Die Autorität Putins im eigenen Land ist also erheblich beschädigt. Hinzu kommt, dass die ihn umgebenden und ihn bisher weitgehend stützenden Oligarchen durch den Ukraine-Krieg und die wegen diesem verhängten Sanktionen immer größere (finanzielle) Nachteile erleiden, wodurch ihre Unzufriedenheit weiter anwachsen dürfte. Nun hat Putin Schwäche gezeigt, hat angedeutet, dass sein Macht eben nicht unbegrenzt ist, dass er (politisch) verwundbar ist. Dies könnte langfristig dazu führen, dass sich in diesen Zirkeln Opposition gegen ihn formiert: diese Ereignisse könnten das Ende seiner Macht eingeläutet haben nicht heute, nicht morgen, aber eben langfristig.

Und es bleiben jede Menge Fragen. Was passiert mit Prigoschin? Wird er sich in Belarus in einen Schaukelstuhl setzen und die Beine hochlegen? Im „SPIEGEL“-Newsblog 24 Stunden Chaos in Russland wird die Einschätzung eines Beraters der belarusischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, Franak Viačorka, wiedergegeben; ihm zufolge gebe es drei Möglichkeiten: 1. Prigoschin arbeitet weiter für Wagner, Belarus wird das Hauptquartier der Söldner-Truppe; 2. Prigoschin befehligt den Krieg gegen die Ukraine von Belarus aus; 3. Prigoschin bekomme eine neue Aufgabe und setze sich zur Ruhe (weniger wahrscheinlich). Nahezu ebenso spannend dürfte die Frage sein, was mit der Wagner-Gruppe passiert (bzw. mit deren Kämpfern): Wie wird mit den Kämpfern verfahren, die an der gestrigen Aktion beteiligt waren und denen Straffreiheit zugesichert wurde? Wohin könnten sie gehen, wie sieht ihre Zukunft aus? Was geschieht mit den übrigen Kämpfern dieser Gruppe (die ja wie erwähnt nicht nur in der Ukraine, sondern in verschiedensten Teilen der Welt unterwegs sind)? Wird die Gruppe aufgelöst? Wird sie nun doch in die reguläre russische Armee integriert? Werden sich die Kämpfer überhaupt auf eine solche Integration einlassen wohlgemerkt auf eine Integration in eine Armee, deren Führung von ihrem bisherigen Chef aufs übelste nicht nur kritisiert, sondern sogar beschimpft und beleidigt wurde? Und last but not least: Wie geht es mit dem Krieg gegen die Ukraine weiter? Wie ich gestern bereits schrieb, hat die Wagner-Gruppe (nicht nur) dort die Drecksarbeit für die russische Armee verrichtet, deren Führung hierdurch in der Lage war, Vorwürfe wegen Kriegsverbrechen „wegzulächeln“.

Ob und wann diese Fragen einmal beantwortet werden, ist derzeit noch nicht absehbar. Klar scheint aber zu sein, dass diese Ereignisse des 24. Juni 2023 für Russland eine Zäsur darstellen werden. Und: Wir im „Westen“ sollten uns keine Illusionen machen. Nicht die liberale, die demokratisch gesinnte Opposition in Russland ist gestärkt worden; sie ist nach wie vor schwach und kaum wahrnehmbar. Gestärkt worden sind die nationalistischen Kräfte: Bei aller Kritik, die Prigoschin an der Darstellung der Gründe des Krieges gegen die Ukraine geübt hat, darf nicht vergessen werden, dass er dessen Durchführung immer wieder als zu lasch“ kritisiert hat. Und die nun gestärkten ultra-nationalistischen Kräfte vertreten diese Ansicht ebenso. Für die Ukraine sind das nicht unbedingt gute Aussichten und für ihre Unterstützer vermutlich auch nicht...

24. Juni 2023. Vor genau 17 Monaten begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Tritt dieser Krieg an diesem Tag noch dazu völlig unerwartet in eine neue Phase? Schon am Vortag musste man „spitze Ohren“ bekommen: In einem im Messenger-Dienst „Telegram“ veröffentlichten Video widersprach der Financier der Wagner-Gruppe und bisherige Putin-Vertraute Jewgeni Prigoschin vehement der bislang vom Kreml behaupteten Begründung für den russischen Angriff auf die Ukraine. Die behauptete Bedrohung Russlands durch die Ukraine und die NATO habe nicht bestanden. Aus seiner Sicht sei der Krieg begonnen worden, „damit [der russische Verteidigungsminister] Schoigu den Titel eines Marschalls erhält. (...) Und nicht, um die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren.“ Zudem beschuldigt er das russische Verteidigungsministerium, Präsident Wladimir Putin über den wahren Verlauf des Krieges zu täuschen und hinsichtlich der Abwehr der jüngst gestarteten ukrainischen Gegenoffensive Falschmeldungen zu verbreiten: So entstehen Meldungen über 60 zerstörte Leopard-Panzer….Niemand hat 60 Leoparden zerstört.“ Zudem wirft er Schoigu vor, Angriffe auf Lager seiner Truppe angeordnet zu haben, bei denen eine „sehr große“ Zahl seiner Kämpfer getötet worden sei.

Doch damit nicht genug: Am Morgen des 24. Juni 2023 wird die Meldung verbreitet, die Wagner-Truppe sei nach Russland einmarschiert und bewege sich auf Rostow zu. Am Mittag wird gemeldet, laut Prigoschin habe seine Truppe dort „alle militärischen Einrichtungen“ übernommen Behauptungen, die sich zwar nicht unabhängig überprüfen lassen, jedoch indirekt von Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache bestätigt worden sein sollen. Inzwischen ermitteln die russische Generalstaatsanwaltschaft und der Inlandsgeheimdienst FSB gegen Prigoschin. Ziel von dessen Aktion ist es anscheinend nicht, Putin zu stürzen; sie richtet sich offenbar vielmehr gegen die russische Militärführung unter Verteidigungsminister Sergei Schoigu.

Was passiert da gerade in Russland? Bisher war es immer die Aufgabe der Wagner-Truppe, überall dort, wo sich Russland militärisch einmischte oder einzumischen sucht, die Drecksarbeit zu verrichten. Das lässt sich der zweiteiligen arte-Dokumentation Die Wagner-Gruppe Russlands geheime Söldner (die Videos sind noch bis zum 06.12.2023 verfügbar) ohne jeden Zweifel entnehmen. In dieser Dokumentation wird auch erwähnt, es habe in der Vergangenheit in der Duma (dem russischen Parlament) mehrfache Versuche gegeben, für die Tätigkeit dieser Gruppe eine gesetzliche Grundlage zu schaffen; hiervon sei jedoch immer wieder (bewusst[?]) abgesehen worden. Insoweit ist nun bemerkenswert, dass erst kürzlich in der Duma ein Gesetz verabschiedet wurde, nach dem sich bis spätestens 1. Juli 2023 alle russischen Söldnertruppen vertraglich zu einer Unterordnung gegenüber dem russischen Verteidigungsministerium zu verpflichten haben. Bereits frühzeitig hatte Prigoschin deutlich gemacht, dass er zu einer solchen Verpflichtung nicht bereit sei obwohl Präsident Wladimir Putin nach der Unterzeichnung dieses Gesetzes offenbar persönlich klargestellt hat, dass es auch die Wagner-Gruppe betreffe.

Meine Meinung: Es wird spannend in Russland. Schon länger beklagt sich der Wagner-Financier Prigoschin über eine mangelnde Unterstützung seiner Truppe durch die russische Armee. Nachdem er zunächst wegen eines Mangels an zur Verfügung stehender Munition den Rückzug seiner Truppen aus den Monate langen Kämpfen um die ukrainische Stadt Bachmut angekündigt hatte, zog er sie nach der angeblichen Eroberung des Ortes Anfang Juni 2023 offensichtlich tatsächlich von dort zurück. Nun erklärt er, der Einmarsch Russlands in die Ukraine sei gar nicht wegen der vom Kreml und Wladimir Putin behaupteten Bedrohung durch die Ukraine und zu deren Demilitarisierung und Entnazifizierung erfolgt, beschuldigt zudem die russische russische Militärführung, Lager seiner Gruppe angegriffen, bombardiert und eine größere Anzahl seiner Leute getötet zu haben und startet schließlich einen Marsch aus der Ukraine nach Russland hinein, der bis nach Moskau führen soll. Andererseits scheint die russische Militärführung in der Ukraine derart in der Klemme zu sein, dass sie die anscheinend bisher bewusst verfolgte Politik des Verzichts auf eine gesetzliche Regulierung der Aktivitäten der Wagner-Gruppe aufgibt und nunmehr sämtliche Söldnertruppen in Russland unter den Oberbefehl des Verteidigungsministeriums zwingen will. Besonders dieser Schwenk in der russischen Politik muss überraschen: Der russischen Führung muss bewusst sein, dass sie den Krieg gegen die Ukraine ohne die Unterstützung der Wagner-Gruppe nicht nur nicht gewinnen kann (wobei ein solcher Sieg gegenwärtig ohnehin nicht absehbar zu sein scheint), sondern ohne diese Unterstützung sogar gegenüber den ukrainischen Streitkräften weiter ins Hintertreffen geraten dürfte. Zudem beraubt sie sich mit der geforderten Unterordnung (insbesondere) der Wagner-Gruppe unter das Oberkommando des Verteidigungsministeriums eines unschätzbaren politisch-strategischen Vorteils: Bislang konnte die russische Militärführung bei festgestellten Kriegsverbrechen in der Ukraine (und darüber hinaus überall dort, wo Söldner der Wagner-Gruppe zur Wahrung russischer Interessen derzeit noch „die Kastanien aus dem Feuer holen“) mit relativ entspannter Leichtigkeit behaupten: „Das waren wir nicht!“ Stehen alle Söldnertruppen Russlands unter dem Oberbefehl des Verteidigungsministeriums, sollte es mit dieser Ausrede vorbei sein was im Falle irgendwann möglicher Strafverfahren von internationalen Gerichten zu durchaus unangenehmen Konsequenzen (im Extremfall auch für Wladimir Putin selbst) führen könnte. Wie das Ganze enden wird, dürfte heute noch kaum absehbar sein; irgendwie fühle ich mich ein wenig an Goethes „Zauberlehrling“ erinnert: „Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los!


Frieden? Russland sagt „nein“!

6. April 2023. Gründonnerstag in Deutschland. Die Ostermärsche für Frieden und Abrüstung haben begonnen. Eines der zentralen Themen auch in diesem Jahr: die Forderung nach Friedensverhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Kriegs. Auch an diesem Tag: der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, treffen in Peking den Staatspräsidenten der Volksrepublik China, Xi Jinping. Thema dieses Dreiertreffens: Macron (der von der Leyen gebeten hatte, seinen Staatsbesuch in der Volksrepublik zu einem Dreiertreffen mit Xi zu nutzen, sie allerdings separat nach Peking reisen ließ) und die EU-Kommissionspräsidentin wollten Xi um Einflussnahme auf Russland bitten, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, um Friedensverhandlungen zu ermöglichen.

Das Ergebnis irgendwie erwartbar: Xi geht auf die eigentliche Bitte gar nicht ein, weigert sich weiterhin, Russland zu verurteilen oder gar den Krieg als „AngriffskriegRusslands gegen die Ukraine zu bezeichnen. Stattdessen: Wiederholung bekannter Standpunkte. Auf der Pressekonferenz nach dem Treffen verkündet er: „Was die Ukraine-Krise betrifft, so besteht China darauf, den Frieden durch Gespräche und eine politische Lösung zu fördern. China ist bereit, mit Frankreich zusammenzuarbeiten, um die internationale Gemeinschaft aufzufordern, rational und zurückhaltend zu bleiben. (Berichtsausschnitt aus den ARD-„tagesthemen" vom 06.04.2023) Mehr nicht auch kein Eingehen auf die bereits anlässlich der Veröffentlichung des chinesischen „Friedensplans (s. auch den nachfolgenden Artikel) geäußerte Bitte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj um einen Besuch in der Ukraine oder wenigstens ein Telefonat mit ihm.

Obwohl also Xi überhaupt keine Bereitschaft gezeigt hatte, im Sinne der von Macron und von der Leyen vorgebrachten Bitte tätig zu werden, gab es noch am selben Tag eine wie ich finde angesichts dessen bemerkenswert heftige Reaktion aus Moskau, die die dortige ARD-Korrespondentin Ina Ruck in derselben „tagesthemen-Sendung wie folgt darstellte: „Der Kreml-Sprecher hat tatsächlich gesagt, natürlich hätte China großes Potenzial als ein Vermittlungs-Agent, aber im Moment sei die Lage in der Ukraine noch viel zu kompliziert, es gebe keine Perspektive, man sehe keine Alternative als die so genannte Spezialoperation ... weiterzuführen, und aus russischer Sicht klingt das beinahe realistisch, denn Russland hat ja die Latte für Verhandlungen seinerseits sehr hoch gelegt, hat gesagt, man beginne überhaupt erst zu verhandeln, nachdem die internationale Staatengemeinschaft die neuen russischen Gebiete also die illegal der Ukraine abgenommenen Gebiete in der Ostukraine anerkenne als russisch, und tatsächlich weiß man hier sehr genau ..., dass China das nie tun wird oder so schnell nicht tun wird. Sie begründet diese Einschätzung damit, dass China starke wirtschaftliche Interessen im Westen habe und es sich insbesondere mit den USA nicht verscherzen wolle.

Meine Meinung: Wie ich schon im Februar 2023 schrieb: Frieden ist ein durchaus erstrebenswertes Ziel, weil ohne ihn menschliches Zusammenleben auf diesem Planeten nicht wirklich gut funktionieren kann. Und weil wir Menschen nun einmal nur diesen einen Planeten haben, sind wir schon mehr oder weniger gezwungen, uns um Frieden zu bemühen. Daher ist es ja zunächst einmal aller Ehren wert, dass sich derzeit so viele Menschen für den Frieden einsetzen. Auch den Ostermarschierern ist ohne Wenn und Aber zuzubilligen, dass sie sich für eine gute, eine wichtige, ja eine unverzichtbare Sache einsetzen, wenn sie Krieg ablehnen und „Friedensverhandlungen jetzt! fordern. Aber dieser Gründonnerstag des Jahres 2023 ist für alle Friedensbewegten (ich meine dieses Wort an dieser Stelle keinesfalls abwertend) ein wirklich rabenschwarzer Tag. Sie müssen sich fragen lassen: Wie soll bitteschön um Frieden verhandelt werden, wenn der wichtigste Adressat solcher Verhandlungen keinerlei Bereitschaft zu solchen zeigt? Die neuen russischen Gebiete (Ina Ruck, s.o.) als russisch anerkennen, um endlich Friedensgespräche einleiten zu können? Ich denke, in meiner am 14. Februar 2023 auf dieser Seite veröffentlichten Ausarbeitung „Welcher Weg kann Frieden bringen?  hinreichend deutlich dargestellt zu haben, dass auf diese Weise wenn überhaupt allenfalls ein vordergründiger, äußerst brüchiger Frieden erreicht werden könnte, der seinen Namen im strengen Sinne kaum verdient hätte. Wenn er überrhaupt erreicht werden könnte, würde letztlich allein Russland von ihm profitieren: Es könnte die entstandene „Atempause dazu nutzen, seine angeschlagenen Streitkräfte erneut aufzurüsten, um zu einem günstig erscheinenden Zeitpunkt erneut loszuschlagen. Es sollte nämlich unbedingt berücksichtigt werden, dass zum einen Wladimir Putin seinen Plan zur völligen Zerschlagung der Ukraine bis jetzt nicht aufgegeben hat, fraglich ist, ob er ihn jemals aufgeben wird, und zum anderen jedenfalls derzeit genügend nationalistisch gesinnte Politiker in Russland bereitstehen, gegebenenfalls sein Werk fortzusetzen und zu Ende zu führen. Außerdem würde eine solche „Lösung dem erklärten Willen nicht nur der ukrainischen Führung, sondern (vielleicht sogar noch mehr) auch dem des ukrainischen Volkes widersprechen. Wer meint, dennoch solle so vorgegangen werden, den bitte ich, sich einmal folgende Situation vorzustellen: Ein oder gar mehrere bewaffnete Einbrecher dringen in seine Wohnung oder sein Haus ein, besetzen zwei der fünf Zimmer und erklären ihm, dort bleiben zu wollen. Polizei rufen sei zwecklos, dann würde man ihn sofort erschießen. Solange er still halte, sei alles so weit in Ordnung; allerdings behalte man sich vor, wann immer man Lust habe auch noch die restlichen Zimmer zu besetzen und ihn dann entweder auf die Straße zu setzen oder vielleicht doch noch umzubringen. Hätte jemand darauf Lust?

Ina Ruck beendete ihren hier wiedergegebenen Beitrag mit der Bemerkung, der Schlüssel zur Beendigung des Ukraine-Krieges liege nicht in China, sondern in Russland. Das mag sein (ich werde den Teufel tun, diese Bemerkung beurteilen zu wollen); wenn das so ist, dann sollten sich alle bemühen, ihn dort zu suchen. Ich fürchte nur, es wird verdammt schwer sein, ihn dort zu finden. Und trotz der Einschätzung von Ina Ruck hoffe ich, dass die Führung der Volksrepublik China irgendwann doch bereit sein wird, dem Rest der Welt bei dieser Suche behilflich zu sein.


Wege zum Frieden?

Am 14. Februar 2023 hatte ich meine Gedanken zu der Frage veröffentlicht, auf welche Weise nach etwa einem Jahr Krieg zwischen Russland und der Ukraine ein Frieden erreicht werden könnte. Dabei hatte ich auch Kriterien aufgestellt, die ein Frieden aus meiner Sicht erfüllen müsste, um dauerhaft zu sein und damit als echter Frieden bezeichnet werden kann. Als ich diesen Artikel abschloss verfügte ich bereits über die Information, dass die Vollversammlung (Generalversammlung) der Vereinten Nationen plante, am 23. Februar 2023, dem Vorabend des ersten Jahrestags des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine, eine Resolution zu verabschieden, mit der dieser Krieg einem Ende nähergebracht werden sollte. Kurz vor diesem Termin wurde zudem bekannt, dass die Volksrepublik China an diesem Jahrestag selbst eigene Vorschläge für eine Beilegung dieses Konflikts vorlegen wolle.

Es ist mir gelungen, an deutsche Übersetzungen dieser beiden Dokumente zu gelangen; dabei handelt es sich allerdings nicht um autorisierte Übersetzungen. Diese habe ich unter der Fragestellung analysiert, inwieweit die darin niedergelegten Vorstellungen tatsächlich geeignet sind, zu einer Beendigung der Kampfhandlungen und weitergehend zu einem echten Friedensschluss beizutragen. Das Ergebnis finden Sie in meiner Ausarbeitung Wege zum Frieden?. Diese enthält als Anhang auch die Texte der erwähnten Dokumente. Wer diese isoliert betrachten möchte, kann dies auch tun: Chinas 12-Punkte-Papier und die Resolution der UN-Generalversammlung habe ich noch einmal gesondert bereitgestellt.

Auch der am 26. Februar 2023 ausgestrahlte ARD-„Presseclub“ befasste sich mit der Problematik und stellte die Frage: „Chinas Vorstoß: Chance für den Frieden oder Blendwerk? (Video verfügbar bis 26.02.2024, 12.03 Uhr). Einer der Diskutanten, der u.a. für die „Welt tätige Christoph M. Schiltz, lehnte den chinesischen Vorstoß allein deshalb ab, weil darin auch vorgesehen sei, im Rahmen einer endgültigen Friedensregelung auch über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zu verhandeln. Dies forderte meinen Widerspruch heraus, weil ich denke, dass das nach dem Zerfall der Sowjetunion und des „Warschauer Pakts“ entstandene Konstrukt mit der Erweiterung der NATO nach Osten und der (vermeintlichen) Einbeziehung der Russischen Föderation durch die „NATO-Russland-Grundakte“, mit dem die westlichen Staaten die Sicherheit in Europa gewährleistet glaubten, sich spätestens mit dem Beginn dieses Krieges als nicht wirklich tauglich zur Sicherung des Friedens erwiesen hat. Nachdem ich mir den (deutschen) Text des chinesischen Papiers besorgt hatte und mir denken konnte, auf welchen Punkt er sich bei seiner Äußerung bezog, wandte ich mich am 28.02.2023 mit einer E-Mail an ihn, woraus sich ein kleiner Schriftwechsel entwickelte. Dass Schiltz mit seiner Aufassung nicht alleine steht, dass eine europäische Friedensordnung nach dem Ende des Ukraine-Krieges weiterhin auf den bisherigen Strukturen aufgebaut werden könne, machte der neue Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, in der „Anne Will“-Sendung vom 5. März 2023 (Video verfügbar bis 05.03.2024, 21.45 Uhr) deutlich. Ihm würde ich gerne meine mit diesem Artikel veröffentlichte Ausarbeitung zukommen lassen; leider habe ich eine entsprechende E-Mail-Adresse nicht ausfindig machen können.


Frieden erwünscht wie kommen wir dorthin?

In zehn Tagen ist es ein Jahr her, dass Russland seine „militärische Spezialoperation“ zur Entnazifizierung“ und Befreiung“ der Ukraine startete. Noch immer sind diese Ziele nicht erreicht, noch immer wird auf dem Staatsgebiet der Ukraine erbittert gekämpft, und seit der letzten Aktualisierung dieser Seite vor fast genau fünf Monaten hat sich in militärischer Hinsicht nicht so furchtbar viel verändert sieht man einmal davon ab, dass die russischen Angriffe seit Beginn des Winters in hohem Maße der so genannten „kritischen Infrastruktur“ gelten und offenbar das Ziel haben, die Moral und die Verteidigungsbereitschaft der Zivilbevölkerung zu untergraben. Erwartet wird allerdings sowohl seitens der ukrainischen Führung als auch von Beobachtern westlicher Geheimdienste eine baldige „Frühjahrsoffensive“ der russischen Streitkräfte in der Ostukraine, um dort im letzten Spätsommer von den ukrainischen Streitkräften zurückeroberte Gebiete erneut unter ihre Kontrolle zu bringen. Um diese erwartete Offensive aufhalten bzw. zurückschlagen zu können, war von ukrainischer Seite immer wieder die Lieferung von Kampfpanzern insbesondere aus deutscher Produktion gefordert worden. Vor wenigen Wochen haben sich die Verbündeten der Ukraine zu diesem Schritt durchringen können und heute wollen die NATO-Partner nach Aussage des Generalsekretärs Jens Stoltenberg darüber beraten, ob der Ukraine auch Kampfjets zur Verfügung gestellt werden können.

Dass eine solche Ausweitung der militärischen Unterstützung der Ukraine Besorgnisse hinsichtlich einer Ausweitung des Konflikts auslöst und Rufe nach verstärkten Friedensbemühungen laut werden lässt, ist nicht weiter verwunderlich. Einer aktuellen, von der ARD veröffentlichten Umfrage zufolge sind 58% der Deutschen der Auffassung, die Friedensbemühungen sollten intensiviert werden. Natürlich ist ein Frieden in der Ukraine ein absolut erstrebenswertes Ziel, wie Frieden generell ein absolut erstrebenswertes Ziel ist. Nur: Welche Wege gibt es in diesem Konflikt überhaupt, um dorthin zu gelangen? Darüber habe ich mir in den letzten genau sieben Tagen einige Gedanken gemacht, und ich freue mich, Ihnen heute das Ergebnis präsentieren zu können.


Sieben Monate Krieg gegen die Ukraine beginnt eine neue Phase?

Vorbemerkung: Dieser Artikel wurde am 27. September 2022 begoonnen. Wegen der mir selbst auferlegten Verpflichtung, ein fundiertes und im Rahmen meiner Möglichkeiten sauber recherchiertes Ergebnis abzuliefern, hat die Bearbeitung länger gedauert als erwartet. Mittlerweile schreiben wir den 30. September 2022. An diesem Tag hat Wladimir Putin die eingangs des Artikels genannten Gebiete offiziell zu russischem Staatsgebiet erklärt. Außerdem hat er die Anschläge auf die Ostsee-Pipelines als einen „Akt des internationalen Terrorismus" bezeichnet und als solchen verurteilt. Damit dieser Artikel nun endlich online gehen kann, sind diese Ereignisse nicht mehr in die Bewertung eingeflossen.

Vor sieben Monaten und drei Tagen begann Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Vor einer Woche begann möglicherweise eine neue Phase dieses Krieges. Nachdem die ukrainischen Streitkräfte seit Anfang September im Osten und Süden des Landes größere Teile des von russischen Truppen besetzten Gebietes zurückerobern konnten, verkündeten die Machthaber in den „unabhängigen Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk am 20. September 2022, vom 23. - 27. September sollten „Referenden“ über einen Beitritt zur Russischen Föderation abgehalten werden. Wenig später verkündeten die Machthaber in den russisch besetzten Oblasten Saporischja und Cherson ebenfalls, in diesem Zeitraum über einen Beitritt dieser Gebiete zu Russland abstimmen lassen zu wollen (bemerkenswert ist hierbei, dass keines dieser Gebiete derzeit vollständig unter russischer Kontrolle steht). Und nur einen Tag später ordnete der russische Präsident Wladimir in seinem Land eine „Teilmobilmachung“ an. Die in der überwiegenden Zahl der westlichen Medien genannte Zahl von 300.000 zu rekrutierenden Reservisten beruht nach Angaben der Russland-Expertin Sabine Adler, u.a. Korrespondentin des Deutschlandfunks, auf einer Angabe des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu; da jedoch in der Bekanntmachung des Erlasses die Ziffer 7 fehlt, die diese Angabe enthalten sollte, gibt es Spekulationen, es könnten bis zu einer Million Menschen betroffen sein. Zu der weiter unten beschriebenen Panik in der russischen Bevölkerung dürfte allerdings wesentlich die Bemerkung Schoigus beigetragen haben, Russland verfüge insgesamt über 25 Millionen Reservisten. Schließlich hat Wladimir Putin bei der Verkündung seines Beschlusses zu dessen Begründung erklärt, der „globale Westen“ plane die „Zerstörung Russlands“, und drohte erneut mit dem Einsatz von Atomwaffen, um „Russlands Grenzen“ zu verteidigen; auch der Westen bedrohe Russland mit diesen Waffen. Dieser Drohung ließ er noch die Worte folgen: „Ich bluffe nicht!

Wie ist dies alles einzuordnen? Besteht die unmittelbare Gefahr einer Eskalation des Ukraine-Krieges, ist gar die Möglichkeit eines Atomkriegs näher gerückt? Auf den ersten Blick scheint dies offensichtlich zu sein. Bemühen wir uns also einmal um eine Einordnung:

1. Die angekündigten Referenden in den genannten vier Oblasten in der westlichen Berichterstattung (wie nachfolgend gezeigt werden wird, absolut zu Recht) als Scheinreferenden bezeichnet bergen allem Anschein nach insofern eine erhebliche Eskalationsgefahr, als die betroffenen Gebiete wohlgmerkt völkerrechtlich ukrainisches Staatsgebiet in der Folge zu Territorium der Russischen Föderation erklärt werden können und somit alle weiteren Bemühungen der vom „Westen“ unterstützten ukrainischen Streitkräfte zur Rückeroberung besetzten Territoriums als Angriff auf Russland. Angesichts der Drohungen Putins, Russlands Grenzen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen zu wollen, sicherlich ein absolut bedrohlich erscheinendes Szenario. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass diese Bedrohung bereits seit dem 24. Februar 2022 in völlig unveränderter Weise (fort)besteht. Und in dieser Zeit hat es sehr wohl ukrainische Anschläge auf der seit 2014 von Russland annektierten (und nach einem entsprechenden „Referendum“ aus russischer Sicht eben zu Russland gehörenden) Halbinsel Krim gegeben hat; passiert ist allerdings nichts! Carlo Masala, Inhaber der Professur für Internationale Politik an der Bundeswehr-Universität in München, vertrat in der „maybrit illner“-Sendung vom 22. September 2022 (abrufbar bis 22.09.2023) die Auffassung, an der atomaren Bedrohung habe sich im Grunde seit dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine nichts geändert. Putin werde eine Atomwaffe nur dann einsetzen, wenn sich hieraus ein strategischer Nutzen ergebe; ein solcher sei jedoch derzeit nicht erkennbar. Sicher stehe die Drohung im Raum, und schließlich verfüge Putin auch über diese Waffen; allerdings habe er sie auch schon seit dem 24. Februar jederzeit einsetzen können. Zu Putins Einlassung „Ich bluffe nicht!“, erklärt er: „Es ist schon auffällig, dass der Präsident des Staates, der nummerisch die meisten Nuklearwaffen hat, sich gezwungen sieht, nachdem er sieben Monate lang nukleare Drohungen ausstößt, jetzt noch zu sagen: ‚Das ist kein Bluff!‘. Das zeigt, dass auch dort realisiert wurde, dass diese ganze Abschreckungslogik der letzten sieben Monate: wir drohen euch mit Nuklearschlägen, also macht nichts und liefert keine Waffen und beschützt die Ukraine nicht, dass das verpufft ist. Der Westen hat sich da sehr klug verhalten, er ist überhaupt nicht darauf eingegangen. Also muss dieser Mann jetzt sagen, dass das kein Bluff ist: das ist letzten Endes sehr zugespitzt gesagt eine Bankrotterklärung." (zu sehen ab Minute 32:00 des Videos). Im Weiteren erläutert er, dass Wladimir Putin für einen Nuklearwaffeneinsatz einen sehr hohen Preis zahlen würde, nämlich eine nahezu vollständige außenpolitische Isolation.
Auch die Sendung „Hart aber fair" vom 26. September 2022 hatte die neuesten Entwicklungen im Ukraine-Konflikt zum Gegenstand. Die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler, Mitglied im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, weist darin ebenfalls auf die vielfältigen Gelegenheiten hin, bei denen Wladimir Putin seit dem Beginn dieses Krieges mit dem Einsatz von Atomwaffen drohte, und erklärt: „Ich will nichts banalisieren, aber die Drohung mit der Atomwaffe ist eigentlich seine größte Waffe: das Spiel mit der Angst." (zu sehen ab Minute 13:45 des Videos)

Es muss auch wenngleich dies keine praktischen und unmittelbaren Auswirkungen hat auf die Umstände hingewiesen werden, unter denen diese „Referenden durchgeführt werden (bzw. wurden; sie endeten am 27. September). Es gab einen Vorlauf von drei (in Ziffern: 3) Tagen! Bereits dieser Umstand sollte deutlich machen, dass eine solche Abstimmung rechtsstaatlichen Kriterien kaum genügen kann. Und die ersten Bilder von deren Durchführung (ich gehe davon aus, dass sie vom russischen Staatsfernsehen übernommen wurden, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass westliche Medienvertreter sofern sie überhaupt in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten zugegen sein können für die Wahllokale eine Drehgenehmigung erhalten konnten) machten dann vollends deutlich, dass es sicih hier um eine Farce, um ein wahres Schmierentheater handelte: Von Wahlkabinen keine Spur, die Wahlzettel wurden teils ungefaltet in durchsichtige Behälter eingeworfen. Es gab ohnehin nur wenige dieser „Wahllokale“; stattdessen gingen von Bewaffneten begleitete „Wahlhelfer“ mit diesen Behältern von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung. Angesichts dieser Schilderungen dürfte rasch klar sein, wie viel „Wahlfreiheit“ den Menschen tatsächlich eingeräumt wurde.

2. Bisher handelte es sich in der russischen Lesart bei dem Angriff auf die Ukraine um eine „militärische Spezialoperation“. Das Wort „Krieg“ in diesem Zusammenhang zu benutzen, konnte russischen Bürgern empfindliche Strafen einbringen. Nicht zuletzt deshalb darin sind sich westliche Beobachter und Militärexperten einig dürfte Wladimir Putin die Verkündung einer Mobilmachng bis jetzt hinausgezögert haben. Denn mit deren Verkündung wurde den russischen Bürgerinnen und Bürgern klar: hier handelt es sich um mehr, hier handelt es sich um einen Krieg. Das Ergebnis der Verkündung war denn auch schlicht und ergreifend eine Panikreaktion! Trotz Demonstrationsverbots und der Gefahr, verhaftet zu werden, gingen in vielen Städten Menschen vor allem Frauen auf die Straße. Bereits in den ersten beiden Tagen nach der Verkündung der Teilmobilmachung wurden landesweit nach (vorsichtigen) Schätzungen mehr als 1.500 Menschen bei Kundgebungen festgenommen teils unter Anwendung brutalster Gewalt. Zudem ergriff eine riesige Fluchtwelle das Land: die noch erreichbaren Flüge ins Ausland waren schnell ausgebucht, freie Plätze kosteten umgerechnet bis zu 10.000 €. Laut einer Meldung des „Münchner Merkur“ vom 27. September 2022, 8.35 Uhr, sollen zu diesem Zeitpunkt bereits 260.000 russische Männer das Land verlassen haben. Der ARD-Text meldet am frühen Abend dieses Tages, allein nach Kasachstan seien seit dem 21. September rund 98.000 russische Staatsbürger eingereist; an der Grenze zu Georgien stauten sich dieser Meldung zufolge südlich von Wladikawkas nach Angaben der regionalen Behörden rund 5.500 Fahrzeuge. Bei am 26. September gemeldeten Protesten in der Teilrepublik Dagestan blockierten Anwohner eine Straße, um die Teilmobilisierung zu verhindern, woraufhin Sicherheitskräfte Warnschüsse abgegeben haben sollen. Im sibirischen Ust-Ilimsk, einer Stadt mit 85.000 Einwohnern, schoss am selben Tag ein Mann in Tarnkleidung auf einen Rekrutierungsoffizier und verletzt ihn so schwer, dass sein Überleben offenbar fraglich ist.

Dies sind zwar nur Schlaglichter auf die Situation nach der Verkündung der Teilmobilmachung in Russland. Sie zeigen allerdings, dass der Rückhalt für Präsident Putin im eigenen Land zu bröckeln beginnt. In der bereits erwähnten Diskussion bei Maybrit Illner wies Carlo Masala in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass in der Ukraine auf russischer Seite bisher fast ausschließlich Angehörige ethnischer Minderheiten kämpfen (müssen); da nun aber in größerem Umfang auch ethnische Russen zum Militärdienst herangezogen würden, käme nun die Kriegsproblematik in der Mitte der Gesellschaft an. Doch die viel weitergehende Frage ist, welche (militärischen) Ergebnisse von der Mobilisierung dieser Kräfte zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang wies Carlo Masala daruf hin, dass für die einzuberufenden Männer drei Kriterien genannt worden seien: sie müssten Wehrdienst geleistet haben, sie müssten Erfahrung haben, also Spezialisten sein, und sie müssten Kampferfahrung haben. Dann fährt er fort: „Jetzt versuchen Sie mal, 300.000 zu finden, die alle diese Kriterien erfüllen. Das kriegen Sie nicht hin. Also kriegen Sie junge, ältere Männer, die Sie zwei, drei, vier Wochen ausbilden, was absolut nicht reicht, und dann an die Front schmeißen." Außerdem sei die Frage der Materialversorgung zu lösen. Das klappe bereits aktuell nicht. Hinzu komme, dass der Winter bevorstehe und die russische Armee nicht über Winterschutz verfüge. Im Ergebnis könnten die neu rekrutierten Truppen frühestens im nächsten Frühjahr einsatzbereit sein.
In der Sendung „Hart aber fair" vom 26. September 2022 (abrufbar bis zum 26.09.2023, 23.59 Uhr) brachte Claudia Major, Expertin für Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, einen anderen Aspekt in die Diskussion ein: Putin signalisiere mit dieser Teilmobilisierung, dass er sich auf einen langen Krieg einstelle; man dürfe sich daher die mit ihr für Russland verbundenen Schwierigkeiten „nicht schönreden". Die meisten Teilnehmer dieser Diskussionsrunde, darunter der ehemalige Moskau-Korrespondent der ARD, Udo Lielischkies, und der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, waren sich darin einig, die Ukraine müsse in der nächsten Zeit bestmöglich auch mit der Lieferung von Schützenpanzern unterstützt werden. Russland habe mit der Teilmobilisierung gezeigt, dass es derzeit kein Interesse an Friedensverhandlungen habe. Daher müsse die Ukraine in die Lage versetzt werden, so viel von Russland besetztes Territorium zurückzuerobern wie irgend möglich um idealerweise die russischen Truppen auf ihre Stellungen vor dem 24. Februar 2022 zurückzudrängen.

Inzwischen (dieser Artikel wurde am Mittag des 27. September 2022 begonnen) hat sich die Lage zumindest dem Anschein nach weiter zugespitzt: Die Ergebnisse der „Referenden wurden bekanntgegeben, nachdem die Stimmabgabe „aus Sicherheitsgründen“ um 16.00 Uhr Ortszeit beendet worden war, und niemand dürfte überrascht gewesen sein, dass zwischen 87 und 90 % der Stimmen für einen Anschluss an Russland abgegeben worden sein sollen. Bereits gestern erklärte der ehemalige russiische Präsident Dmitri Medwedew, heute stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Russland habe das Recht auf den Einsatz von Atomwaffen im Rahmen der hierfür vorgesehenen Grenzen (womit die seit 2020 geltende Militärdoktrin Russlands gemeint ist). Diese sehen nach den Angaben der ARD-Korrespondentin in Moskau, Ina Ruck, einen solchen Einsatz bei atomarer Bedrohung Russlands oder bei einem die Existenz des russischen Staates bedrohenden Angriff mit konventionellen Waffen vor. Diese Drohung hat er neuesten Meldungen zufolge heute noch einmal wiederholt. Die USA denken für den Fall eines tatsächlichen Einsatzes von Nuklearwaffen über Reaktionen nach und haben der russischen Seite dies nach eigenen Angaben wiederholt sowohl vor als auch hinter den Kulissen" deutlich gemacht.

Nicht gerade zur Entspannung der Lage dürfte die Meldung vom frühen Abend des 27. September beigetragen haben, an den durch die Ostsee führenden Pipelines NordStream 1 und NordStream 2 seien insgesamt drei Lecks entdeckt worden, aus denen Gas ausströme. Inzwischen verdichten sich die Hinweise, dass es sich um Sabotageakte handeln könnte, und es werden sowohl Maßnahmen zur Sicherung der Grenzen als auch der Energieversorgungs-Infrastruktur ergriffen. Noch ist nicht absehbar, was diese Ereignisse bedeuten und was sie nach sich ziehen werden.

Meine Meinung: Die vorstehend beschriebenen Entwicklungen sind sehr beunruhigend. Immer deutlicher wird, was ich bereits in meiner weiter unten auf dieser Seite verlinkten Analyse herausarbeiten konnte: Putins am 24. Februar 2022 begonnener Krieg richtet sich nicht nur gegen die Ukraine; er richtet sich gegen den gesamten Westen besser gesagt: gegen die westlichen Werte. Diese sind es, die seine unumschränkte Herrschaft gefährden könnten und die wiederum setzt er offenbar mit der Existenz Russlands gleich. Wie es scheint, spitzen sich die Gedanken der Menschen, vor allem der Menschen in Deutschland, immer mehr auf die Frage zu: Könnte es zu einem Atomkrieg kommen (Korrespondenten zufolge haben etwa die Menschen im Baltikum oder in Tschechien viel weniger Angst vor einem Atomkrieg als die Deutschen, obwohl sie viel näher am Geschehen wohnen)? Ich erinnere hier an die in diesem Artikel wiedergegebenen Worte von Carlo Masala zu dieser Frage, und ich füge dem hinzu, dass ich bei dem Nachsatz von Putin, es handle sich hier nicht um einen Bluff, inhaltlich denselben Gedanken hatte.

Andererseits: Bereits vor Ausbruch dieses Krieges, als aber bereits entsprechende Befürchtungen im Raum standen, habe ich Parallelen zu den Entwicklungen der Jahre 1938/39 gesehen. Damals hat sich Adolf Hitler mehrere europäische Gebiete teils friedlich (Östrerreich), teils unter Androhung militärischer Gewalt (und mit um des lieben Friedens willen geschlossenen Abkommen) einverleibt, um dann schließlich (nach nahezu vollendeter Aufrüstung seiner Armee) Polen anzugreifen und den Zweiten Weltkrieg zu entfesseln (wobei auch sein vorheriges Eingreifen in den spanischen Bürgerkrieg zugunsten der Faschisten nicht unerwähnt bleiben darf). Putin haben die westlichen Länder gewähren lassen, als er 2008 Teile Georgiens besetzte (die übrigens bis heute unter russischer Kontrolle stehen), und auch nach der Annexion der Krim war die Reaktion des Westens allenfalls halbherzig. Dass Deutschland danach noch das Projekt „NordStream 2" begonnen hat und sich auch durch die durchaus vielfältigen Einwände und Bedenken osteuropäischer EU-Partner hiervon nicht hat abbringen lassen, habe ich von Anfang an für mit den seinerzeit beschlossenen Sanktionen gegen Russland für unvereinbar gehalten und nie verstanden. Diese Politik hat genau wie die seinerzeit von Großbritannien, teils aber auch von Frankreich gegenüber Adolf Hitler verfolgte dazu geführt, dass sich Wladimir Putin zum Angriff auf die Ukraine entschließen konnte. Und auch in diesem Krieg selbst lassen sich Parallelen zwischen Adolf Hitler und Wladimir Putin erkennen: beiden ist eigen, dass sie ganz offenbar bereit sind, für das Erreichen ihres Ziels die Bevölkerung ihres eigenen Landes zu opfern. Dies könnte nahelegen, dass Wladimir Putin trotz der beschriebenen Risiken für ihn, insbesondere aber für sein Land, zum Einsatz von Atomwaffen bereit sein könnte.
Das Dumme ist nur: Alle diese Überlegungen sind Spekulation, weil niemand weiß, wie dieser Mann tatsächlich tickt. Rüdiger von Fritsch, ehemaliger Botschafter Deutschlands in Moskau, vertrat in der in diesem Artikel erwähnten „maybrit illner"-Sendung zwar die Auffassung, Putin sei „nicht irrational, nicht verrückt; er handelt nach einer anderen Rationalität". Doch selbst wenn wir unterstellen, dass es so ist: wer sagt uns, dass diese „andere Rationalität" nicht (auch) den Einsatz von Atomwaffen beinhaltet frei nach dem Motto: „Wenn ich meine Ziele nicht erreichen kann, dann gehe ich eben unter – und mein Volk, das unfähig war, für mich diese Ziele zu erreichen, nehme ich gleich mit!" (Adolf Hitler jedenfalls hat so gedacht.)

Aber vielleicht geht moderne (und effektive) Kriegsführung auch weit unterhalb der Atomschwelle. Für erhebliche Verwirrung sorgten zunächst einmal die Meldungen über die Lecks an den beiden NordStream-Pipelines, vor allem nachdem relativ schnell klar war, dass es sich nach Lage der Dinge hierbei nur um gezielte Aktionen, sprich: um Anschläge, handeln könnte. Wer könnte ein Interesse daran haben, diese Leitungen zeitweilig oder möglicherweise dauerhaft lahmzulegen? Russland? Würde es sich damit nicht der wenigstens theoretischen Möglichkeit berauben, irgenwann nach Beendigung dieses Krieges wieder Gas an Deutschland zu verkaufen? Welches Motiv könnte es haben, seine eigenen Pipelines funktionsunfähig zu machen? Ein näheres Hinsehen und ein Anhören von Sicherheits-Experten lohnt sich. Zunächst fällt auf, dass just an dem Tag, an dem die Lecks bemerkt (und offenbar auch verursacht) wurden, feierlich eine andere Pipeline eingeweiht wurde, mit der künftig Gas von Norwegen durch die Ostsee nach Polen gepumpt werden soll. Des Weiteren: Russland befindet sich nach eigener Wahrnehmung im Krieg mit „dem Westen". Wenn nun eine Russland gehörende Pipeline Ziel eines Anschlags wird, was liegt dann näher, als alle Verdächtigungen von sich zu weisen (Regierungssprecher Peskow hat genau dies umgehend getan) und dem Kriegsgegner die Schuld in die Schuhe zu schieben (was allerdings bis zum frühen Abend des 29. September noch nicht geschehen ist)? Ein von mehreren Sicherheitsexperten ins Spiel gebrachter Aspekt ist schließlich, dass es sich bei dieser Aktion um eine quasi nonverbale Drohung handeln könnte: ‚Seht, wozu wir fähig sind! Was wir mit einer stillgelegten Pipeline machen können, können wir jederzeit auch mit einer im Betrieb befindlichen machen.‘ Und schließlich sind auf dem Meeresboden nicht nur Pipelines verlegt, sondern auch beispielsweise jede Menge Datenleitungen, die etwa nahezu die kompletten Internetverbindungen zwischen Europa und Amerika sicherstellen. Diese lahmzulegen hätte möglicherweise viel gravierende Auswirkungen als der Abwurf von Atombomben und anders als bei einem solchen weiß ich nicht, ob „der Westen" hierauf eine Antwort parat hätte.

Fazit. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist zweifellos ab dem 20. September 2022 in eine neue Phase eingetreten. Die Drohungen Russlands an die Länder, die den Freiheitskampf der Ukraine unterstützen, sind drängender geworden. Damit ist auch deutlicher geworden, dass es Putin um mehr geht als um die (Eroberung der) Ukraine. Es ist ganz offensichtlich das eingetreten, was die Menschen jedenfalls in Deutschland, wahrscheinlich auch in großen Teilen Europas und möglicherweise noch darüber hinaus, nach dem Zerfall des so genannten Ostblocks nicht mehr für möglich gehalten haben: ein neuer Krieg der Systeme, womöglich noch heftiger und erbitterter geführt als der „Kalte Krieg" zwischen den Systemen Kapitalismus und Kommunismus. Der russische Angriff auf die Ukraine könnte gewissermaßen physischer Ausfluss eines Kampfes Totalitarismus gegen Demokratie und Freiheit sein. Daher fürchte ich: Wenn es nicht gelingt, Russland und Wladimir Putin aufzuhalten, könnte das schwerwiegendste Folgen für die gesamte Weltordnung haben und letztlich sogar für das Überleben der Menschheit. Es zeichnet sich ab, dass totalitär geführte Staaten noch weniger Bereitschaft zeigen als demokratisch regierte, die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels zu ergreifen.

In letzter Konsequenz: Wenn wir bereit sind, die Freiheit und die Werte der Demokratie zu verteidigen, riskieren wir vielleicht einen Atomkrieg mit seinen unabsehbaren Folgen. Wenn wir hierzu nicht bereit sind, verlieren wir mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit den Kampf gegen die mit dem Klimawandel verbundene Erderwärmung mit vielleicht ebenso unabsehbaren, möglicherweise aber noch unabsehbareren Folgen für den gesamten Planeten. Kürzer ausgedrückt: Wir haben (wieder einmal?) die Wahl zwischen Pest und Cholera!



Fünf Monate Krieg – Versuch einer Bilanz

Heute früh fiel mein Blick auf den Kalender: 24.07.2022. Was bedeutet das? Fünf (in Ziffern: 5) Monate Krieg in Europa. Fünf Monate sind vergangen seit dem brutalen Überfall Russlands auf das Nachbar- und (bisherige?) Bruderland Ukraine. Ich beschloss, eine kurze Bilanz zu ziehen.

Eine (einzige?) gute Nachricht gibt es: der Staat Ukraine existiert noch. Wladimir Putins Plan, in einer Art „Blitzkrieg“ die Hauptstadt Kiew einzunehmen, die Regierung auszuschalten und so möglichst schnell das Land zu unterwerfen und seinem Herrschaftsbereich einzuverleiben, ist nicht aufgegangen.

Ansonsten gibt es aber (fast) nur schlechte Nachrichten: Ungefähr ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebietes befindet sich unter russischer Kontrolle (der Donbass mit den Provinzen Donezk und Luhansk ist fast vollständig besetzt), in weiten Teilen des Ostens und Südens wird immer noch gekämpft, auf beiden Seiten ist eine nicht bezifferbare Zahl von Menschenleben zu beklagen, fast alle Gebiete der Ukraine können von russischen Raketen erreicht werden, und es sind mittlerweile eine hohe Zahl von Kriegsverbrechen registriert worden (von beiden Seiten, wobei die von russischer Seite verübten allerdings weit überwiegen).
 
Es sind eine Reihe von Sanktionen gegen Russland verhängt worden, insbesondere von den USA und der EU. Sie haben bisher nicht vermocht, das Kriegsgeschehen in nennenswerter Weise zu beeinflussen, wohl aber haben sie wirtschaftliche Auswirkungen sowohl in Russland als auch in der EU gehabt. Letzteres hat gerade aktuell dazu geführt, dass die Uneinigkeit in der zunächst sehr geschlossen auftretenden Europäischen Union immer deutlicher zutage tritt: Erst am 23. Juli 2022 hat der ungarische Regierungschef Viktor Orban öffentlich erklärt, die Sanktionspolitik der EU gegenüber Russland sei gescheitert, weil sie mehr Schaden in ihren Ländern verursache als in Russland selbst. Die einzige Lösungsmöglichkeit des Konflikts stellten Verhandlungen zwischen den USA und Russland dar, weil Russland zur Beendigung des Krieges Sicherheitsgarantien fordere, die nur die USA abgeben könnten.

Und die gerade erst zart aufgekeimte Hoffnung, die durch die Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen und damit der Getreidelieferungen dieses Landes (aber auch Russlands) entstandene weltweite Hungerkrise könne wenigstens ein Stück weit gemildert werden, scheint sich auch bereits wieder in Luft aufzulösen: Am 22. Juli 2022 wurde in Istanbul ein in Monaten unter Vermittlung durch die Türkei und die Vereinten Nationen mühsam ausgehandeltes Abkommen von der Ukraine, Russland und den beiden Vermittlern Türkei und UN unterzeichnet, mit dem die Ausfuhr ukrainischen Getreides über drei Schwarzmeerhäfen, u.a. Odessa, ermöglicht werden sollte. Keine 24 Stunden nach dieser Unterzeichnung wurden vom Schwarzen Meer aus vier Raketen auf Odessa abgefeuert. Zwei von ihnen konnten von ukrainischen Streitkräften abgefangen werden; die beiden anderen schlugen im Hafengebiet der Stadt ein, ohne allerdings die Getreidesilos oder Verladeeinrichtungen zu treffen.

Zu all diesen schlechten Nachrichten treten weitere hinzu: Ein großer Teil der Länder ist nicht bereit, die Sanktionen gegen Russland mitzutragen oder auch nur zu unterstützen. Da hilft es auch nichts, dass eine Mehrzahl der Staaten in der UN-Vollversammlung den russischen Angriffskrieg verurteilt haben. Solche „Lippenbekenntnisse“ helfen der Ukraine nicht. Es wäre bereits schlimm genug, wenn etwa China und andere große asiatische Staaten wie Indien nicht bereit sind, ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland einzuschränken. Auch viele afrikanische und südamerikanische Länder stehen nach wie vor unter russischem Einfluss, und just in der letzten Woche hat das EU-Mitglied (!) Ungarn, das bei den von der EU-Kommission geplanten Einschränkungen beim Bezug russischen Gases ohnehin schon Ausnahmeregelungen für sich erwirkt hat, in Person seines Außenministers Szijjarto in Moskau noch zusätzliche Gaslieferungen angefragt.

Meine Meinung: Wann wird endlich – speziell in Europa – begriffen, welche Dimension dieser Krieg tatsächlich hat? Natürlich ziele ich mit dieser Frage zuallererst auf Ungarn ab, wobei mir völlig klar ist, dass dieses Land längst einen Sonderweg eingeschlagen hat, der – sollte Viktor Orban langfristig an der Macht bleiben können – zwangsläufig einen Verbleib dieses Landes in der EU massiv in Frage stellen muss. Schließlich muss befürchtet werden, dass sein Konzept der „illiberalen Demokratie“ langfristig auf Verhältnisse hinauslaufen wird (soll?), wie wir sie aktuell in Russland vorfinden. Nein, ich meine sehr wohl auch Deutschland und die NATO, letztere allerdings nicht in Gänze.

Obwohl Bundeskanzler Olaf Scholz der Ukraine zuletzt mehrfach umfassende Unterstützung auch mit Waffen zugesagt hat, gab es in der abgelaufenen Woche wieder Berichte über insofern stockende Hilfe. Und das in Anbetracht der Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gerade in jüngster Zeit mehrfach hervorgehoben hat, dass es angesichts der Lieferungen moderner „schwerer“ westlicher Waffen zunehmend gelinge, russische Angriffe abzuwehren bzw. zurückzuschlagen und sogar besetzte Gebiete zurückzuerobern. Doch die militärische ist nur die eine Seite dieses Konfliktes; die andere Seite ist die wirtschaftliche:
 
Wie hat Deutschland gezittert (irgendwie durchaus wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange), ob Russland nach der technischen Wartung der Pipeline Nordstream 1 dieser möglicherweise eine politische folgen ließe und weiterhin kein Gas mehr durch diese Leitung fließen lassen würde! Und es gibt tatsächlich Menschen in Deutschland, die (in einer Diskussion um die Abberufung des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk) äußern, sie seien nicht bereit, für die (in ihren Augen offenbar entsprechend dem Putin’schen Narrativ neonazistische) ukrainische Regierung zu frieren. Natürlich ist frieren extrem unangenehm, und auch ich friere keineswegs gerne. Trotzdem habe ich mir erlaubt, dem Verfasser eines entsprechenden Kommentars sinngemäß die Frage zu stellen, ob ihm eine warme Wohnung wichtiger sei als der irgendwann drohende Verlust seine persönlichen Freiheiten.

Denn um nichts anderes geht es im Grunde: Nicht die Ukraine als solche ist Wladimir Putin ein Dorn im Auge; vielmehr ist es die Furcht, die Ideen von Demokratie und Freiheit könnten eines Tages auch in seinem Land auf fruchtbaren Boden fallen und seine Herrschaft gefährden, die sein Handeln bestimmt. Und wie sich gerade gezeigt hat, sollten diese autokratischen Ideen sogar in den USA durchgesetzt werden, was nur mit knapper Not verhindert werden konnte.

Deshalb: Die Ukraine darf diesen Krieg nicht nur nicht verlieren; sie muss diesen Krieg gewinnen! Sie muss ihn in dem Sinne gewinnen, dass ihre territoriale Integrität vollständig wiederhergestellt wird. Ob dieses „vollständig“ auch die seit 2014 von Russland bzw. russlandfreundlichen Separatisten besetzten Gebiete umfassen soll, kann nur die ukrainische Regierung bzw. das ukrainische Volk entscheiden. Zudem müssen tatsächlich verbindliche Regelungen gefunden werden, die diese territoriale Integrität dieses Landes dauerhaft garantieren. Solange diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, befindet sich nicht nur Europa, sondern letztlich auch der Weltfrieden in höchster Gefahr. Diese wird möglicherweise noch nicht einmal dann gebannt sein; das haben die vorstehend erwähnten Ereignisse vom 22./23. Juli 2022 eindrucksvoll gezeigt.


Offenbarung?

Am Morgen des 11. Juni 2022 werde ich wie schon häufiger seit dem 24. Februar dieses Jahres durch eine Meldung aufgeschreckt: Wladimir Putin hat sich wieder einmal zu Wort gemeldet, was die Regierung Estlands dazu bewogen hat, den russischen Botschafter einzubestellen. Er soll hinsichtlich des laufenden Konflikts um die Ukraine Vergleiche mit dem Großen Nordischen Krieg und dem Russischen Zaren Peter I. angestellt haben. Obwohl ich mir an diesem Wochenende eine Pause gönnen wollte, werde ich hellhörig und beginne zu recherchieren.

Was ich herausfinde: Im 17. Jahrhundert hat Russland seinen Zugang zur Ostsee an Schweden verloren, und Anfang des 18. Jahrhunderts hat Peter I. eine strategische Schwäche Schwedens ausgenutzt und weite Teile des einst abgetretenen Territoriums wieder zurückerobert (um die Frage, auf welchem Weg Russland in der davor liegenden Zeit an den Ostsee-Zugang gekommen ist, habe ich mich aus Zeitgründen hier nicht gekümmert). Es stimmt also zunächst einmal: Peter der I. hat die Gegend um St. Petersburg damals nicht für Russland (erstmals) erobert, sondern verloren gegangenes Territorium für das Zarenreich zurückgewonnen. Doch das Ganze hat einen gewaltigen Haken: Putin vergleicht sich mit Peter I., sieht sich in einer vergleichbaren Mission; verloren gegangenes Land zurückholen! Noch brisanter ist, dass einer seiner Gefolgsleute in der Regierungspartei Geeintes Russland, der Duma-Abgeordnete Jewgeni Alexejewitsch Fjodorow, einen Tag vor der Äußerung Putins einen Antrag in der Duma eingebracht hat, der die Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit Litauens anzweifelt.

Meine Meinung: Wladimir Putin lässt im Rahmen des Interviews mit der Nachrichtenagentur Interfax, in dem er diesen Vergleich anstellt, noch mit einem weiteren Satz aufhorchen: „Offenbar ist es auch unser Los: Zurückzuholen und zu stärken. Werden hier die schlimmsten Befürchtungen bestätigt, die seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine immer wieder geäußert wurden – von ukrainischen Politikern, von Politikern osteuropäischer Länder wie Polen und der baltischen Staaten, aber auch von verschiedenen Militärexperten: Dass es das Ziel Putins ist, das russische Territorium weitestgehend wieder auf das der untergegangenen Sowjetunion zu erweitern? Zwar wird der oben erwähnte Duma-Abgeordnete Fjodorow als „nationalistischer Hardliner“ dargestellt (und damit als jemand, der möglicherweise nicht so ganz ernst genommen werden sollte). Aber ist es wirklich vorstellbar, dass in Russlands Regierungspartei etwas ohne Billigung Wladimir Putins geschieht? Ich denke, dass dies angesichts all dessen, was sich auch innenpolitisch in Russland seit dem 24. Februar 2022 abgespielt hat, kaum anzunehmen ist.

Es scheint, als müssten Positionen noch einmal neu überdacht werden, insbesondere solche, die für Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine in Gestalt von Waffenlieferungen plädieren. Einmal mehr stellt sich die Frage, wo die russische Aggression enden wird, sollte sie in der Ukraine nicht gestoppt werden können. Lange Zeit bis wenige Wochen vor dem tatsächlichen Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine waren viele Dinge unvorstellbar, die seitdem Wirklichkeit geworden sind. Somit scheint es unumgänglich zu sein, mehr denn je das Undenkbare jedenfalls in das Denken mit einzubeziehen einfach nur, um darauf vorbereitet zu sein!


Die Suche nach Lösungen

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine tobt seit mittlerweile mehr als 100 Tagen. Mit Mühe und Not hat die Europäische Union (EU) ein sechstes Saktionspaket gegen Russland verabschiedet, auf Betreiben Ungarns allerdings nur in „abgespeckter“ Form. Die seit dem Beginn des Krieges vielfach beschworene Einigkeit der EU beginnt erkennbar zu bröckeln“, wie es der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck formulierte, und das beileibe nicht nur wegen Ungarns Viktor Orban. So meldete sich etwa der französische Staatspräsident Emmanuel Macron mit der Forderung zu Wort, es müsse vermieden werden, Wladimir Putin zu „demütigen. Zwar mag die Antwort der ukrainischen Seite hierauf, Putin demütige sich gerade selbst, ebenso wenig zielführend sein; dennoch stellt sich die Frage, was Macron mit einer solchen Aussage bezwecken möchte. Und in Deutschland scheint es eine Menge Leute zu geben, die einen Atomkrieg mehr fürchten als die Tatsache, dass der Putin'sche Angriff auf die Ukraine auf weit mehr zielt als auf dieses Land: auf die westlichen“ Werte Freiheit, Demokratie, Menschenrechte (wie sie von der Mehrzahl der in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Staaten vertreten bzw. verstanden werden) und auf eine Veränderung der globalen Sicherheitsstrukturen im Sinne der Vorstellungen Wladimir Putins.

100 Tage Krieg für die Menschen in der Ukraine bedeutet dies 100 Tage Angst, 100 Tage Leid, 100 Tage Schrecken, Unsicherheit, Verlust der Freiheit, Verlust von Gesundheit, Verlust von Menschenleben. Für viele andere Menschen in Europa und in anderen Ländern der Welt, die sich zur Unterstützung der Ukraine entschlossen haben, bedeutet dies Verlust von alten Gewissheiten, das mehr oder weniger diffuse Gefühl einer Bedrohung, Einschränkungen durch steigende Preise und die Konfrontation mit Bildern von Leid und Zerstörung verbunden mit dem zunehmenden Wunsch, das alles möge bald vorbei sein. Doch noch etwas anderes nimmt zu: die Gewöhnung an dies alles, eine gewisse Gleichgültigkeit. Das bedeutet eine Gefahr: Dass nicht nur bei den Verantwortlichen in der EU die Unterstützung für die Ukraine zu bröckeln beginnt, sondern auch bei den Menschen. Die Sehnsucht wird größer, das alles möge so schnell wie möglich aufhören, koste es, was es wolle. Bloß nicht zu viele Waffen liefern, schließlich hat Putin ja schon mit der Atombombe gedroht.

In dieser Situation diskutierte Maybrit Illner am Abend des 2. Juni 2022 mit ihren Gästen in der nach ihr benannten ZDF-Sendung die Frage: „Schwache Sanktionen, fehlende Waffen bröckelt die Solidarität?“. Mit von der Partie waren u.a. die ZDF-Korrespondentin in der Ukraine, Katrin Eigendorf, und Prof. Johannes Varwick, Politikwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Letzterer vertrat in der Sendung vehement die Meinung, Deutschland dürfe keine weiteren Waffen an die Ukraine liefern, da diese den Krieg ohnehin nicht gewinnen könne. Statt ausschließlich auf Waffenlieferungen müsse viel mehr auf das Zustandekommen von Verhandlungen gesetzt und mehr Verständnis für die russische Position aufgebracht werden. Zwar trat er für die Souveränität der Ukraine ein, äußerte aber gleichzeitig die Auffassung, eine Bindung des Landes an den Westen sei kontraproduktiv. Wünschenswert sei vielmehr eine neutrale Ukraine. Ihre Verbündeten sollten ihr zu einer solchen Lösung raten. Auf den Einwand von Katrin Eigendorf, dass der russische Angriff nicht allein auf die Ukraine, sondern auf den gesamten Westen ziele, ging er ebenso wenig ein wie auf Hinweise, dass Wladimir Putin derzeit nicht die geringste Gesprächsbereitschaft erkennen lasse und zudem nur die Ukraine selbst darüber entscheiden könne, welche Verhandlungslösung sie letztlich zu akzeptieren bereit sei.

Wie den Lesern meiner Ausarbeitung „Putins Angriff auf die Ukraine“ bekannt sein dürfte komme ich darin zu dem Schluss, dass die von Wladimir Putin mit dem Überfall auf die Ukraine verfolgten Absichten in der Tat weit über eine bloße Besetzung und Annexion der Ukraine hinausgehen und sich wie auch von Katrin Eigendorf betont vielmehr gegen den Westen bzw. die von ihm vertretenen Werte und auf die Etablierung einer neuen, von Russland bestimmten Sicherheitsordnung in Europa richtet. Dass jemand, der für sich in Anspruch nimmt, Politikwissenschaftler zu sein (und als Professor dieses Fach dann wohl auch an seiner Universität lehrt), dies allem Anschein nach nicht zu erkennen vermag, bestürzt und frappiert mich. Daher habe ich mich entschlossen, Herrn Prof. Varwick eine E-Mail zu schreiben, die ich ihm am 5. Juni 2022 übermittelt habe (hier ist nur der Text wiedergegeben).


Welches Spiel spielt Botschafter Melnyk?
 

Einmal mehr löst der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk – jedenfalls bei mir – an diesem 19. Mai 2022 einige Verwirrung aus: Obwohl sich sein Präsident, Wolodymyr Selenskyj, bereits am 15. März 2022 – also vor mehr als zwei Monaten (!) – vom Ziel eines ukrainischen NATO-Beitritts offiziell erst einmal verabschiedet hat, fordert er nun plötzlich wieder einen raschen ebensolchen und erklärt zudem noch, auf diese Weise könne die Gefahr eines Atomkriegs verringert werden: Wenn Russland ein NATO-Mitglied Ukraine mit Nuklearwaffen angreifen würde wisse es, dass die NATO ebenso antworten würde,
 
Meine Meinung: Was treibt diesen Mann? Selenskyj hatte seinerzeit erklärt, er habe einsehen müssen, dass ein Beitritt seines Landes zur NATO derzeit nicht möglich sei, und sich ausdrücklich von diesem in der ukrainischen Verfassung verankerten Ziel (vorläufig) verabschiedet. Stattdessen müsse über anderweitige umfassende Sicherheitsgarantien für die Ukraine verhandelt werden. (Dem Vernehmen nach hat es wohl auch schon entsprechende Verhandlungen gegeben, die verständlicherweise nicht öffentlich gemacht werden können.) Diese Position ist für ihn sicherlich schmerzhaft, sie ist allerdings auch nichts anderes als realistisch, weil die NATO vom ersten Tag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine an unmissverständlich deutlich gemacht hat, dass sie sich nicht in diesen Krieg hineinziehen lassen will. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob der Vorstoß des Botschafters mit seiner Regierung abgesprochen ist. Sollte dies der Fall sein, müsste diese umgehend erklären, ob sich die am 15. März 2022 von Präsident Selenskyj verkündete Position geändert hat. Sollte dies dagegen nicht der Fall sein, muss sich dieselbe Regierung fragen lassen, wie lange sie noch an Herrn Melnyk als Botschafter in Deutschland festhalten will. Selbst wenn er nach eigenem Bekunden mit seinen häufig scharfen Äußerungen niemanden beleidigen will, sondern nur findet, es gehe manchmal nicht anders, als rhetorisch anzuecken, sogar zu provozieren, stellt sich mir erneut (s. Artikel Kindergartenspiele? weiter unten auf dieser Seite) die Frage, wie eine solche Haltung mit dem Beruf eines Diplomaten vereinbar sein kann.
 
Anscheinend bezieht sich Melnyk mit seinem Vorstoß auf die Beitrittswünsche Finnlands und Schwedens zur NATO. Dabei scheint er allerdings geflissentlich zu übersehen, dass diese beiden Länder sich zwar wegen des russischen Angriffs auf sein Land ebenfalls von Russland bedroht fühlen, momentan aber eben noch nicht selbst angegriffen sind. Die Ukraine befindet sich jedoch in eben diesem bewaffneten Konflikt mit Russland, so dass eine Aufnahme dieses Landes die NATO unmittelbar zur Kriegspartei machen würde. Das aber ist gerade der Grund, der seinen Präsidenten zu einem Verzicht auf diesen Schritt bewogen hat. Und: Sollte es Russland wirklich unternehmen, die Ukraine mit Atomwaffen anzugreifen, würde dies mit Sicherheit eine extrem scharfe Reaktion der NATO-Staaten nach sich ziehen – unabhängig von einer Mitgliedschaft des Landes. Jedenfalls sind entsprechende Erwägungen bereits für den Einsatz von Giftgas angestellt worden – und ein Atomschlag wäre sicher noch einmal eine andere Kategorie!


Rede zum „Tag des Sieges“ – gibt’s was Neues?

Über die bereits im Rahmen meiner Ausarbeitung „Putins Angriff auf die Ukraine“ dargestellten Reden Wladimir Putins und seinen Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ hinaus bietet seine vorab mit Spannung erwartete Rede zum „Tag des Sieges“ vom 9. Mai 2022 zum 77. Jahrestag der Kapitulation Hitlerdeutschlands und dem damit verbundenen Ende des Zweiten Weltkriegs wenig Neues, das gesondert zu bewerten wäre. Zwar fällt auf, dass er nun konkret von gegen Russland gerichteten Invasionsplänen des Westens und der Absicht der ukrainischen Führung spricht, Atomwaffen zu erwerben. Doch wer genau hinschaut, findet Ansätze dieses Narrativs bereits in seiner Rede vom 24. Februar 2022, in der er davon spricht, dass eine Macht nach der Weltherrschaft strebe. Dass dies so nicht stimmen kann, wird durch seine Behauptung deutlich, es seien „regelmäßig die modernsten Waffen aus den NATO-Ländern [an die Ukraine] geliefert“ worden. Träfe dies zu, dann könnten die ukrainischen Streitkräfte diese jetzt bereits in ihrem Abwehrkampf gegen seine Truppen einsetzen und müssten nicht etwa in Deutschland in dem Gebrauch modernerer Waffen trainiert werden als ihnen derzeit zur Verfügung stehen.

Ansonsten wiederholt er bereits Bekanntes. Angesichts der Erwartung, dass er an diesem 9. Mai 2022 militärische Erfolge verkünden wolle (die er nun an keiner Stelle vorzuweisen hatte; nicht einmal die prestigeträchtige vollständige Einnahme Mariupols einschließlich des Asovstal-Werks war seinen Streitkräften bis dahin gelungen), stellt sich die Frage, wie diese Rede wohl in der Bevölkerung Russlands aufgenommen worden sein mag (die bei ihr Anwesenden wird man hier nicht als Maßstab heranziehen können). Ein wenig verwundern mag, dass er auch auf Drohungen (etwa mit dem Einsatz von Atomwaffen) vollständig verzichtet hat.

Für mich ergibt sich aus dieser Rede so wenig Neues, dass ich über diese wenigen Worte hinaus auf eine Bewertung derselben verzichten möchte. Stattdessen verlinke ich für diejenigen Leser*innen, die auf eine solche nicht verzichten möchten, auf den am 10. Mai 2022 in der „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) erschienenen Artikel „Putin hat im Krieg gegen die Ukraine nur noch die Wahl zwischen schlechten Optionen“ und danke Kurt Papendick für den Hinweis darauf. Meinen Kommentar zu diesem Hinweis möchte ich Ihnen jedoch auch nicht vorenthalten: „Interessant ja, aber wenn man genauer hinschaut, irgendwie die Mühe nicht wert, mit der der Artikel geschrieben wurde: nach dem Lesen ist man genauso schlau wie vorher. Tenor ist doch: Putin hat drei Optionen – alle sind gleich (un)wahrscheinlich.“


Die (evangelische) Kirche und der Frieden

Update vom 19.05.2022: Mit E-Mails vom 17. Mai 2022 hatte ich Herrn Landesbischof Kramer, seinen für ihn antwortenden Referenten Michael Nann und Herrn Landesbischof Prof. Dr. Bedford-Strohm über diese Veröffentlichung informiert. Herr Nann hat mir mit E-Mail vom 18. Mai 2022 geantwortet und darin u.a. für meinen wichtigen Debattenbeitrag zu den besagten aktuellen friedensethischen Fragen gedankt. Gleichzeitig macht er noch einmal die Position der evangelischen Kirche deutlich, dass sowohl diejenigen eine Sünde begehen, die mit Waffenlieferungen zu weiteren Tötungen beitragen, als auch diejenigen, die durch den Verzicht auf Waffenlieferungen den Tod weiterer unschuldiger Menschen in Kauf nehmen. Angesichts dieser Position sei die Frage gestellt, wie man sich denn nun in einer solchen Situation verhalten soll, um der gerechten Strafe Gottes zu entgehen. Klarer ausgedrückt: Unglaubwürdiger kann eine Position in dieser Frage wohl kaum sein! Den Gläubigen Orientierung geben wird die evangelische Kirche mit einer solchen jedenfalls wohl eher nicht können.


Wie den Frieden sichern – oder (besser und treffender gefragt): wiederherstellen? Diese Frage bewegt in diesen schweren Zeiten viele Menschen – so auch mich. Mit der Veröffentlichung meiner Ausarbeitung „Putins Angriff auf die Ukraine“ am 19. April 2022 hatte ich auch über eine E-Mail informiert, die ich am 14. April 2022 dem Friedensbeauftragten der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), Landesbischof Friedrich Kramer (Magdeburg) übermittelt hatte.
 
Während der Arbeit an der erwähnten Ausarbeitung erfuhr ich, dass sich der bayerische Landesbischof und ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, in einem (scheinbaren?) Gegensatz zu dessen Position für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hatte. Dies veranlasste mich, ihm hierfür meine Anerkennung auszusprechen und die Nachricht an Landesbischof Kramer zur Kenntnis zuzuleiten. Eine Antwort erhielt ich bereits zwei Tage später; ihr angehängt war der Artikel, der dem Medienbericht über seine zustimmende Einstellung zu Waffenlieferungen an die Ukraine zugrunde lag.
 
Mit einiger Verspätung erhielt ich dann am 6. Mai 2022 auch eine Reaktion auf meine E-Mail an Landesbischof Kramer, allerdings nicht von ihm selbst, sondern von dem Referenten für den Friedensbeauftragten des Rates der EKD Konferenz für Friedensarbeit im Verein für Friedensarbeit im Raum der EKD e.V., Michael Nann.
 
Meine Meinung: Selbstverständlich ist leicht nachzuvollziehen, dass die Erhaltung bzw. Wiederherstellung von Frieden eines der obersten Gebote für alle Menschen und menschlichen Gesellschaften sein muss, weil nur im Frieden Menschen auf Dauer menschenwürdig existieren können. Ebenso leicht ist nachzuvollziehen, dass sich gerade die christlichen Religionsgemeinschaften (Kirchen) in ihrer Gesamtheit durch den Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in einem kaum auflösbaren Dilemma befinden (so spricht Landesbischof Bedford-Strohm in seiner Antwort in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine von einer „dilemmabehafteten“ Frage). Dennoch kommt Bedford-Strohm in seinem Artikel zu z.T. bemerkenswerten Ergebnissen. So schreibt er etwa zu den Kriterien für die Angemessenheit eines Waffeneinsatzes: „Und militärische Gewalt ist nie ‚gerecht‘, sondern schrecklich. Aber es kann eben auch Situationen geben, wo der Verzicht auf sie noch schrecklicher ist.“
 
Wir – die Menschen insgesamt, insbesondere aber diejenigen, die politische Verantwortung tragen und entsprechende Entscheidungen zu treffen haben – werden uns auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, die er am Ende seines Artikels aufwirft: Welche für Rüstung aufgewendeten Beträge können noch als angemessen angesehen werden angesichts des gerade durch diesen Konflikt wahrscheinlich noch einmal sich verstärkenden Hungerproblems auf diesem Planeten und der Tatsache, dass zu dessen Bekämpfung offiziellen Schätzungen zufolge weitaus geringere Beträge aufgewendet werden müssten als derzeit allein für das so genannte „Sondervermögen“ für die Bundeswehr vorgesehen sind.

 Andererseits bin ich auch in einigen Aspekten pessimistischer als der Artikel, etwa was die Vermeidung einer „Rüstungsspirale“ angeht. Die beiderseits (USA und Russische Föderation) vorhandene Zahl an Atomsprengköpfen ist in etwa gleich, so dass in diesem Bereich eher nicht vom Eintritt eines Wettrüstens auszugehen sein dürfte. Im Bereich der so genannten „konventionellen“ Waffen fürchte ich allerdings, dass sich hier ein Rüstungswettlauf nicht wird vermeiden lassen; dieser muss aber letzten Endes dazu führen, dass von einem (extrem?) hohen Rüstungsniveau aus Abrüstungsverhandlungen aufgenommen werden können, die unbedingt von einer gleichberechtigten Verhandlungsposition aller beteiligten Mächte aus geführt werden müssen. Daran hat es in der Zeit nach dem Ende des „Kalten Krieges“ und dem Zusammenbruch der Sowjetunion objektiv gemangelt, und dieser Fehler darf sich keinesfalls wiederholen. Dies muss übrigens als eindeutiger Hinweis an die verantwortlichen Politiker*innen in den USA verstanden werden, und jegliche zu diesem fraglichen Zeitpunkt Verantwortung tragende Bundesregierung wird dringend aufgefordert sein, hierauf zu dringen.

Abschließend bitte ich um Nachsicht, dass ich dies erst am 12. Mai 2022 online stelle, in der Hoffnung auf Verständnis dafür, dass ich nach acht Wochen sehr intensiven Arbeitens auch einmal das Bedürfnis verspürte, ein wenig kürzer zu treten.


Breite Unterstützung für Waffenlieferungen

Liebe Leserinnen und Leser, am 1. Mai 2022 habe ich mich gezwungen gesehen, eine Gegenposition zu dem Offenen Brief zu formulieren, mit dem (zunächst) 28 Prominente den Bundeskanzler aufgefordert hatten, keine  weiteren Waffen an die Ukraine zu liefern (s. unten den Artikel Welchen Preis darf Frieden haben?“). Gestern Abend (4. Mai 2022) erfuhr ich von einem weiteren Offenen Brief an Olaf Scholz, der sich für kontinuierliche Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzt und diese Forderung mit Worten begründet, von denen ich bei der Mitunterzeichnung als Kommentar vermerkt habe, dass ich jedes einzelne von ihnen unterschreiben könne.

Vizekanzler Robert Habeck hat sich in einem Zeit-Interview (dieser Text ist leider nur gegen Gebühr abrufbar) zu dem in der Emma veröffentlichten Offenen Brief geäußert: Darin erklärt er zu der Forderung, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen, wörtlich: Was folgt aus dieser Argumentation? Eigentlich doch nur, dass ein  bisschen Landbesetzung, Vergewaltigung und Hinrichtung einfach  hinzunehmen sind und die Ukraine schnell kapitulieren solle. Das finde  ich nicht richtig.Auf die Nachfrage, ob dies denn nicht polemisch sei, antwortet er: Ja, vielleicht ist das zugespitzt. Aber hinter der Argumentation steht doch die Annahme, dass mit einem Sieg Russlands  das Sterben, die Gewalt ein Ende hätten und dann irgendwie alles wieder  gut wäre. Damit drückt er mit wenigen Worten genau auch meine Position aus. Voraussichtlich morgen (6. Mai 2022) werde ich mir erlauben, ihm meine Unterstützung zu bekunden und bei dieser Gelegenheit die von mir formulierte Gegenposition zu dem Offenen Brief der Friedensbewegten zuzuleiten.


Kindergartenspiele?

In einem ZDF-Interview (Video verfügbar bis 02.05.2023) hatte Bundeskanzler Olaf Scholz am 2. Mai 2022 zur Frage eines Ukraine-Besuchs sinngemäß erklärt, ein solcher Besuch könne erst stattfinden, wenn er auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ermöglicht worden sei. Dieser hatte bekanntlich im April zusammen mit den Präsidenten Polens und Litauens die Ukraine besuchen wollen, war aber von Kiew „ausgeladen“ worden.

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, kritisierte die Haltung des Bundeskanzlers daraufhin als „wenig staatsmännisch“ und betonte, es gehe um den brutalsten Überfall auf die Ukraine seit dem Angriff durch Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg. Dies sei „kein Kindergarten“.

Meine Meinung: Sie haben völlig Recht, Herr Botschafter: Herr Scholz hätte über diesen Affront Ihrer Regierung hinwegsehen können, den die Ausladung unseres Präsidenten ohne Zweifel darstellte. Und selbstverständlich handelt es sich bei dem brutalen Angriff Russlands auf Ihr Heimatland nicht um einen „Kindergarten“. Aber Sie müssen sich auch fragen lassen, wer – um in dem von Ihnen gewählten Bild zu bleiben – mit den Kindergartenspielen angefangen hat.

Ja, Frank-Walter Steinmeier war an einer Politik beteiligt, deren Ergebnisse der Ukraine geschadet und möglicherweise die Entwicklung hin zu diesem Krieg begünstigt haben. Aber Frank-Walter Steinmeier hat in der Rede am Tag seiner Wiederwahl sehr eindeutig die Unterstützung Ihres Landes durch Deutschland für den Fall des sich damals bereits abzeichnenden Angriffs Russlands auf Ihr Land angekündigt. Und er hat nach Ausbruch dieses Krieges (und vor der Ausladung durch Vertreter Ihrer Regierung) eingestanden, sich in der Beurteilung der russischen Politik getäuscht und insoweit Fehler begangen zu haben. Ihn angesichts dessen in einer Situation, in der er zusammen mit zwei Präsidenten befreundeter Staaten durch einen Besuch der Ukraine seine – und damit Deutschlands – Unterstützung in deren Kampf gegen die russische Aggression bekunden wollte, zur unerwünschten Person zu erklären, kann man mit Fug und Recht ebenso als Bestandteil eines „Kindergartenspiels“ bezeichnen wie die von Ihnen kritisierte Reaktion des Bundeskanzlers auf diesen Vorgang.

Sehr geehrter Herr Botschafter, Sie beherrschen die deutsche Sprache sehr gut, und wenn ich nicht sehr irre, sind sie ein gläubiger Christ. Daher möchte ich Sie an ein deutsches Sprichwort erinnern und mit einem Bibelzitat schließen: „Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen!“, und: „Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein!“

Diese Meinung werde ich unmittelbar nach der Veröffentlichung per E-Mail an die ukrainische Botschaft in Berlin übermitteln.


Welchen Preis darf Frieden haben?

Die Woche ab dem 25. April 2022 war hinsichtlich der Entwicklung der deutschen Position zur Lieferung so genannter „schwerer“, also auch zu Angriffszwecken geeigneter, Waffen an die Ukraine sehr ereignisreich – man könnte auch sagen: turbulent. Hatte Bundeskanzler Olaf Scholz sich noch vor dem Wochenende in einem „Spiegel“-Interview zurückhaltend in dieser Frage geäußert und indirekt angedeutet, mit einem solchen Schritt könne möglicherweise sogar ein Atomkrieg ausgelöst werden, verkündete die Bundesverteidigungsministerin nach einer Tagung von 40 Unterstützerstaaten auf der US-Militärbasis in Ramstein dann doch, Deutschland werde nun auch die direkte Lieferung von Panzern an die Ukraine organisieren. Am Donnerstag fasste dann auch der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von SPD, GRÜNEN, FDP und CDU/CSU den Beschluss, dies zu ermöglichen, nachdem der Bundeskanzler in den Wochen zuvor in dieser Frage eine klare Haltung hatte vermissen lassen; zumindest war seine Kommunikation zu dieser Problematik mindestens als „unglücklich“ zu bezeichnen.

 
Am Freitagabend – wir schrieben den 29. April – wurde dann bekannt, zunächst 28 Prominente, unter ihnen die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer und der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar, hätten Bundeskanzler Olaf Scholz in einem auf der Homepage der Zeitschrift „Emma“ veröffentlichten Offenen Brief aufgefordert, keine weiteren „schweren Waffen“ an die Ukraine zu liefern, da ansonsten der Ausbruch eines dritten Weltkrieges und eines Atomkrieges drohe. Zudem dürften nicht noch mehr Menschenleben in der Ukraine aufs Spiel gesetzt werden.

 
Selbstverständlich kann man eine solche Position vertreten und auch mit guten Gründen untermauern – zumindest aus moralischer Sicht. Frieden und Menschenleben sind extrem hohe und wertvolle Güter; diese beschützen und bewahren zu wollen, ist sicherlich aller Ehren wert. Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass Wladimir Putins Angriffskrieg nicht nur der Ukraine gilt, sondern erklärtermaßen den Kampf gegen „westliche“ Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenwürde eröffnet. Insofern ist dieser Offene Brief als ein Beitrag zu der um die Frage von Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine entbrannten öffentlichen Diskussion zu betrachten, aber eben auch nur als ein solcher. Daher habe ich den 1. Mai dazu genutzt, eine Gegenposition zu formulieren und diese der „Emma“-Redaktion mit der Bitte um Weiterleitung jedenfalls an die Erst-Unterzeichner des Offenen Briefs, falls möglich auch um Veröffentlichung, zu übermitteln. Zudem habe ich mich direkt an den bisher von mir sehr geschätzten Ranga Yogeshwar gewandt und den Bundeskanzler ebenfalls über meine Replik in Kenntnis gesetzt. Antworten habe ich bis zum späten Nachmittag des 2. Mai 2022 noch nicht erhalten.


Ausblick

Mancher wird irritiert sein: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist in vollem Gange, im Donbass werden die schlimmsten Angriffe erst noch erwartet, Russlands Außenminister und mittlerweile auch sein Präsident drohen mehr oder weniger unverhohlen mit einem Dritten Weltkrieg, und in dieser Gemengelage wagt hier jemand einen „Ausblick“? Hat der sie nicht mehr alle?

Sachte, sachte. Selbstverständlich ist mir das alles bewusst. Dennoch: In dieser Woche – genauer: am 26. April 2022 – hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen genau das getan, was vernunftbegabte Wesen in nahezu jeder Situation tun sollten: sie hat nach vorne geblickt! Konkret soll ein Beschluss die Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat verpflichten, das Einlegen eines Vetos in einer Sicherheitsrats-Abstimmung innerhalb von zehn Tagen vor der Vollversammlung zu begründen. Zwar weist die „Süddeutsche“ zu Recht darauf hin, dass dieser Beschluss ziemlich folgenlos sein wird (er ist nämlich – wie alle Resolutionen der Vollversammlung – nicht bindend) und somit allenfalls ein „Reförmchen“ darstellt. Dennoch ist bemerkenswert, dass keine der Veto-Mächte versucht hat, den Beschluss zu verhindern. Denn: Obwohl er im Moment ohne praktische Auswirkungen bleiben wird, muss das nicht für alle Zeiten so bleiben.

Die Vereinten Nationen hatten einen Vorläufer: den Völkerbund. Dieser scheiterte jedoch letztlich, zum einen, weil ihm bedeutende Mächte wie die USA nie angehörten, zum anderen, weil seine Grundlagen keine hinreichende Verbindlichkeit zu entwickeln vermochten, schließlich aber auch, weil Beschlüsse den Interessen von Mitgliedern zuwiderlaufen konnten (Veto-Mächte oder überhaupt die Möglichkeit, ein Veto einzulegen, waren nicht vorgesehen). Wem die Beschlüsse oder Prinzipien nicht passten, der konnte zudem einfach austreten. Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs war angesichts dieser Umstände und des durch sie bedingten Scheiterns dieser Organisation jedoch klar, dass die nun zu schaffende neue Friedensordnung eine neue, eine stabilere Grundlage benötigte.

Die mit der Charta der Vereinten Nationen neu geschaffene Grundlage für eine internationale Organisation zur Erhaltung des Weltfriedens ging – zum Zeitpunkt ihrer Erarbeitung wohl zu Recht – offenbar von der Erwägung aus, die Ausstattung bestimmter Mächte (konkret der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs plus China) mit einem Vetorecht in dem für die Erhaltung des Weltfriedens zuvörderst verantwortlichen Gremium – dem Weltsicherheitsrat – sei für dessen Erhaltung notwendig und biete hierfür eine hinreichende Gewähr. Bemerkenswert in Bezug auf die Vorgängerorganisation Völkerbund ist zudem, dass diese Charta im Gegensatz zu dessen Satzung keinerlei Regelungen für den Fall enthält, dass ein Mitglied auszutreten wünscht.

Zwar scheint also die Charta der Vereinten Nationen (die vertragliche Grundlage der Weltorganisation) einen formellen Austritt nicht zuzulassen, sodass – anders als beim Völkerbund – ein Bedeutungsschwund wegen Erosion der Mitgliedschaften nicht eintreten kann. (Nach Artikel 6 der Charta ist allerdings der Ausschluss eines Mitglieds möglich, „das die Grundsätze dieser Charta beharrlich verletzt“. Voraussetzung für einen solchen Ausschluss ist jedoch eine Empfehlung des Sicherheitsrates.) Ein anderer für das Scheitern des Völkerbundes verantwortlicher Faktor bedroht aber schon seit einiger Zeit und spätestens mit dem Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine in einem den kompletten Weltfrieden gefährdenden Umfang die Funktionsfähigkeit der Vereinten Nationen in vergleichbarer Weise: Bereits damals sollen Beschlüsse blockiert worden sein, weil ihrer Umsetzung Eigeninteressen der seinerzeitigen Großmächte entgegenstanden; heute können für die Wiederherstellung bzw. Bewahrung des Friedens notwendige Beschlüsse gar nicht erst gefasst werden, weil mindestens eine der zur Einlegung eines Vetos im UN-Sicherheitsrat befugten Mächte sie erst gar nicht zustande kommen lässt. Und obwohl Russland als Konfliktpartei in den aktuellen Konflikt betreffenden Abstimmungen gar kein Veto einlegen dürfte, erweist sich selbst diese Bestimmung als wirkungslos. Darüber hinaus ist infrage zu stellen, auf welcher Rechtsgrundlage das der Russischen Föderation eingeräumte Vetorecht basiert: in der insoweit nicht geänderten Charta nennt deren Artikel 23 Abs. 1 als ständige und damit nach Artikel 27 Abs. 3, 2. Halbsatz mit einem Vetorecht ausgestattete Mitglieder: „die Republik China, Frankreich, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika“ [Hervorhebung von mir]. Zu Recht kann mithin eingewendet werden, dass die Russische Föderation in der Liste der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates nicht aufgeführt ist; Russland war in Gestalt der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RFSFR) lediglich einer der Unionsstaaten der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Doch diese Problematik soll hier nicht die entscheidende Rolle spielen. Wichtig ist an dieser Stelle, wie – realistischerweise möglichst rasch nach einem Ende des bewaffneten Konflikts zwischen Russland und der Ukraine – die Funktionsfähigkeit der Vereinten Nationen so wiederhergestellt werden kann, dass ihr in möglichst effektiver Weise die Sicherung des Friedens in der Welt gelingen kann. Zwei Wege scheinen sich aufzuzeigen:

Erstens: Eine Auflösung der Vereinten Nationen und die Errichtung einer neuen Weltfriedens-Organisation mit einer völlig neuen oder jedenfalls grundlegend überarbeiteten vertraglichen Grundlage. Bestandteil eines solchen Vertrages müsste die Schaffung eines Gremiums sein, das verbindliche Beschlüsse zu Maßnahmen einschließlich solcher militärischer Natur zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Friedens treffen kann. Dieses Gremium darf keine ständigen und keine mit einem Vetorecht ausgestatteten Mitglieder haben; wird eines seiner Mitglieder in einen bewaffneten Konflikt mit einem anderen Staat oder in einen nicht bewaffneten Konflikt mit einem der anderen Mitglieder des Gremiums verwickelt, verliert es die Mitgliedschaft in diesem und ist von der Vollversammlung der Mitglieder der Organisation unverzüglich durch ein anderes zu ersetzen.

Zweitens: Eine Neuorganisation des Weltsicherheitsrats auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen. Dies erscheint ehrgeizig, sollte jedoch nicht vollständig ausgeschlossen sein. Grundlage für ein solches Vorgehen ist zunächst einmal Artikel 10 Halbsatz 1: „Die Generalversammlung kann alle Fragen und Angelegenheiten erörtern, die in den Rahmen dieser Charta fallen oder Befugnisse und Aufgaben eines in dieser Charta vorgesehenen Organs betreffen;“ Nach Artikel 20 kann eine außerordentliche Generalversammlung einberufen werden, „wenn die Umstände es erfordern“. Die Einberufung erfolgt durch den Generalsekretär „auf Antrag des Sicherheitsrats oder der Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen“. Aus den die Arbeit des Sicherheitsrates regelnden Bestimmungen ist nicht ersichtlich, dass dieser einen Beschluss der Generalversammlung über eine Änderung der seine Arbeit betreffenden Regelungen durch einen eigenen Beschluss überstimmen könnte. Somit sollte eine Regelung seiner Arbeitsweise wie vorstehend skizziert auch „systemimmanent“, also ohne eine Auflösung der Vereinten Nationen und eine komplette Neugründung einer Weltfriedens-Organisation möglich sein. Der Vorteil eines solchen Vorgehens wäre, dass kein „Machtvakuum“ entstünde, während dessen Dauer Konflikte nicht wirksam unterbunden werden könnten.

Sollte sich jedoch bei eingehender Prüfung der rechtlichen Gegebenheiten ergeben, dass ein bindender Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen wie der vorstehend skizzierte nicht gefasst werden kann, müsste tatsächlich der radikalere Schritt der Auflösung und Neugründung ins Auge gefasst werden. Eine Neuordnung der Friedenssicherung auf der Welt erscheint jedenfalls unumgänglich.


Dritter Weltkrieg – eine Frage der Zeit?

Dienstag, 26. April 2022. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärt einen Dritten Weltkrieg zu einer „realen Gefahr“. Ernst zu nehmen? Prahlerei? Verzweiflungstat? Was steckt dahinter?

Ich habe es bereits erwähnt: Auch ich denke, dass dieses Szenario zumindest nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Zu Vieles hat mich bereits im Vorfeld des 24. Februar 2022 an die Ereignisse und Umstände von 1938/39 erinnert, als Adolf Hitler zunächst den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich betrieb, sich später mit zähneknirschender Zustimmung Großbritanniens zunächst das Sudetenland und dann die „Rest-Tschechei“ einverleibte und schließlich Polen überfiel und damit endgültig den Zweiten Weltkrieg auslöste. Hinzu kommt die Aussage einer Russland­-Kennerin in einer Polit-Talkshow, Putin halte die Slawen für eine „überlegene Rasse“. Zudem hat er sein Land in den letzten Jahren – spätestens seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts – nicht unerheblich aufgerüstet. Und zu allem Überfluss hat der russische Präsident – wie einst die Führer der Sowjetunion vor Michail Gorbatschow – „den Westen“ zu seinem „Erzfeind“ erkoren und fürchtet die von ihm vertretenen Werte wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser.

Andererseits: Putin hat seine Truppen am 24. Februar 2022 mit dem erklärten Ziel in die Ukraine einmarschieren lassen, das ganze Land zu besetzen, die Regierung in Kiew zu stürzen und das Land zu „entnazifizieren“. Er war sich zudem sicher, dass die ukrainische Bevölkerung seine Truppen mit offenen Armen empfangen und ein Großteil der ukrainischen Streitkräfte die Waffen niederlegen, vielleicht sogar zu seinen Truppen überlaufen würde. Mehr als zwei Monate später ist der Sturm auf Kiew aufgegeben, die strategisch (und symbolisch) wichtige Stadt Mariupol zwar weitgehend zerstört und entvölkert, aber immer noch nicht vollständig eingenommen, die Schlacht um den Donbass und den zu erobernden Süden des Landes begonnen, aber noch längst nicht gewonnen. Stattdessen sind Tausende von Soldaten, eine Vielzahl von Offizieren und einige Generäle getötet bzw. verwundet worden, und das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte befindet sich auf dem Grund desselben. Angesichts solcher Entwicklungen muss selbstverständlich hinterfragt werden, inwieweit bzw. ob überhaupt die russischen Streitkräfte überhaupt in der Lage wären, einen über ukrainisches Gebiet hinausgehenden Angriffskrieg zu führen und letztlich auch erfolgreich zu bestreiten.

Doch die Ansprachen, die der russische Präsident am 21. und am 24. April 2022 an sein Volk richtete, lassen befürchten, dass der Feldzug gegen die Ukraine der Beginn von etwas Größerem sein könnte. Das könnte sich darauf beschränken, eine Art „neues russisches Großreich“ errichten zu wollen, etwa auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Es könnte allerdings auch sein, dass er nach noch „Höherem“ strebt. In der letztgenannten Ansprache suggeriert er, eine Macht strebe nach der „Weltherrschaft“. Da es Anzeichen dafür gibt, dass er seinen Gegnern das unterstellt, was er selbst plant, sollte man diesen Umstand keinesfalls aus dem Auge verlieren.

Letztlich muss jedoch jedwede Erwartung an Wladimir Putins Handeln Spekulation bleiben. Die entscheidende Frage wird sein: Verfügt er noch über einen Rest an Rationalität, oder ist er vollkommen emotions- oder gar wahnvorstellungsgesteuert? Im ersten Fall sollte es unwahrscheinlich sein, dass er es zu einem Dritten Weltkrieg kommen lässt, weil er damit auch seinen eigenen Untergang riskieren würde. Im zweiten Fall wäre die Menschheit ihm so oder so hilflos ausgeliefert, weil er allein darüber bestimmen kann (und wird), wann die berühmte „rote Linie“ überschritten ist. Die Alternative wäre dann nur, die Ukraine (ab einem bestimmten Punkt?) ihrem Schicksal zu überlassen – und genau das ist eben keine Alternative!


Absurde Diskussionen

In Deutschland stehen Lieferungen so genannter „schwerer Waffen“ wie etwa Panzer an die Ukraine in der Diskussion. Am Wochenende (23./24. April 2022) zirkulierten u.a. Meldungen, Bundeskanzler Olaf Scholz wolle solche vermeiden, um nicht Gefahr zu laufen, einen Atomkrieg auszulösen. Der Hintergrund: Bereits am 24. Februar hatte Wladimir Putin in seiner Ansprache an das russische Volk allen, die sich ihm entgegenstellen sollten, mit dem Einsatz (auch) von Atomwaffen gedroht. Die Diskussion, die sich in den letzten Tagen (zuletzt in der „Pressclub“-Sendung vom 24. April 2022 [verfügbar bis 24.04.2023, 12.03 Uhr]) hierzu entwickelt hat, scheint mir nun allerdings ins Absurde abzugleiten. Was meine ich?
 
Die Diskussionen drehen sich um die Frage, ob bzw. inwieweit die Lieferung „schwerer“ Waffen an die Ukraine seitens der NATO oder deren Mitgliedsländer als „Kriegseintritt“ gewertet werden könnte. Bundesjustizminister Buschmann hat in der Woche zuvor versucht, derartige Bedenken mit dem Hinweis zu zerstreuen, die Bestimmungen des Völkerrechts ließen eine solche Beurteilung nicht zu. Diese Ansicht wurde teils auch von den Teilnehmern an der „Presseclub“-Diskussionsrunde vertreten. Angesichts dessen frage ich mich: „Leute! In welchem Film bin ich denn hier?“
 
Diese Menschen sollten alle wissen, dass sie es mit einem gewissen Wladimir Putin zu tun haben. Das ist genau der, der der Ukraine am 24. Februar dieses Jahres unter Berufung auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen den Krieg erklärt hat – also unter Berufung auf den Artikel, der das Recht auf Selbstverteidigung festschreibt (vgl. meinen Artikel „Putins Angriff auf die Ukraine“, S. 63, 66). Das aber ist der entscheidende Hinweis – der Hinweis darauf, dass eben diesem Wladimir Putin das Völkerrecht (vornehm ausgedrückt) schnurzpiepegal ist. Das heißt auf gut deutsch: Liebe Leute, ob ihr euch nun bei der Unterstützung der Ukraine an das Völkerrecht haltet (bzw. euch auf dessen Bestimmungen oder Regeln beruft) oder nicht, wird diesen Herrn nicht die Bohne interessieren. Wenn er meint, dass ein Land wegen seiner Unterstützung der Ukraine zur Kriegspartei wird, dann wird es, dann ist es Kriegspartei – keinen Augenblick früher und keinen Augenblick später. Er entscheidet dies – und nichts und niemand wird diese seine Entscheidung beeinflussen können.
 
Am Morgen des 26. April 2022 hat sein Außenminister Sergej Lawrow (offenbar angesichts angekündigter neuer US-Waffenlieferungen an die Ukraine im Wert von 322 Mio. Dollar) erklärt, ein Dritter Weltkrieg stelle eine „reale Gefahr“ dar. Jedenfalls mir erzählt er damit nichts Neues. Spätestens nach dem Lesen der Ansprache Wladimir Putins an sein Volk vom 24. Februar 2022 (besser bekannt als „Kriegserklärung an die Ukraine“) ist mir klar geworden, dass es bei diesem Krieg um weit mehr geht als um die Ukraine: Es geht um einen Frontalangriff auf „westliche“ Werte, auf Freiheit und Demokratie. Sollte Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine gewinnen können, dann bedeutet das nicht mehr und nicht weniger als eine Gefährdung des Friedens und der Freiheit für alle Länder Europas – und vielleicht sogar darüber hinaus.
 
Geben wir also der Ukraine alles das, was sie in die Lage versetzen kann, die russische Invasion zurückzuschlagen und die russischen Truppen von ihrem Territorium zu vertreiben. Es gibt in dieser Situation in Deutschland Stimmen, die davor warnen, in diesem Konflikt von „Sieg“ zu sprechen, weil man Russland militärisch nicht besiegen könne, weil eine militärische Lösung nicht möglich sei. Auch dieser Auffassung möchte ich widersprechen: Russland will einen militärischen Sieg; wenn schon nicht die gesamte Ukraine erobert werden kann, dann soll es wenigstens der komplette Donbass und der gesamte Süden sein, sodass ein Korridor nach Transnistrien geschaffen werden kann (den Rest heben wir uns dann für später auf). So lautet die jüngste offizielle Ansage (mit dem Klammerzusatz im Hinterkopf, denn ein Putin gibt keine Ziele auf). Die Folge eines solchen Sieges habe ich gerade beschrieben – und damit gleichzeitig erklärt, warum er verhindert werden muss. Ein „Sieg“ der Ukraine in diesem Konflikt (ich schreibe hier bewusst nicht „Krieg“) ist aber notwendig, um die Folgen eines russischen Sieges zu vermeiden; und dieser ist auch möglich, denn er ist ja nicht im klassischen Sinne mit einem Sieg über Russland gleichzusetzen (in dem Sinne, dass ukrainische Truppen Moskau und Russland bis Wladiwostok einnehmen und Wladimir Putin aus dem Kreml vertreiben oder ihn gefangen nehmen und an den Internationalen Strafgerichtshof ausliefern, so wünschenswert Letzteres auch wäre). Ein Sieg der Ukraine wäre es schon, den im ersten Satz dieses Absatzes beschriebenen Zustand zu erreichen. Und in diesem Sinne darf nicht nur, in diesem Sinne muss von einem Sieg der Ukraine gesprochen werden (und eben nicht nur werden dürfen).


Wie konnte es soweit kommen?

Update vom 20.04.2022: Im Nachgang zur gestrigen Veröffentlichung meiner Ausarbeitung habe ich an dieser noch eine kleine Ergänzung angebracht. Nutzer*innen, die unter den Links „Dokument“ bzw. „Kurzfassung“ die hinterlegten Dokumente vor dem 20.04.2022, 9.48 Uhr, abgerufen haben, werden gebeten, diesen Download erneut auszuführen.

Seit mehr als sieben Wochen tobt mittlerweile der von Wladimir Putin begonnene Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bei dessen Ausbruch hatte ich Ihnen versprochen, auf dieser Seite eine Ausarbeitung zu der Frage zu veröffentlichen, ob es Faktoren gab, die den Ausbruch dieses Krieges begünstigten, und falls es sie gab, diese darin zu benennen. Heute, am 19. April 2022, kann ich Ihnen das Ergebnis meiner Recherchen präsentieren.

Es gab eine Menge Quellen herauszufinden, zu sichten und auszuwerten. Wenn Sie einen Blick in das Dokument werfen, werden Sie hoffentlich nachvollziehen können, dass ich als „Einzelkämpfer“ diese Zeit gebraucht habe, um Ihnen eine fundierte und ausgewogene Arbeit anbieten zu können. Die wichtigsten darin verarbeiteten Dokumente habe ich im Anhang der Arbeit zusammengestellt; darüber hinaus biete ich sie Ihnen noch einmal einzeln zum Download an. Es sind:
-  der Aufsatz Wladimir Putins „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“, veröffentlicht am 12. Juli 2021;
-  die Ansprache Wladimir Putins an das russische Volk vom 21. Februar 2022 zur Erläuterung der Anerkennung der            Unabhängigkeit der Donbass-Volksrepubliken“;
-  die Ansprache Wladimir Putins an das russische Volk vom 24. Februar 2022, bekannt als „Kriegserklärung an die Ukraine“
-  die 1990 von den in der OSZE zusammengeschlossenen Staaten verabschiedete „Charta von Paris“;
-  die 1999 vom OSZE-Gipfel in Istanbul verabschiedete „Europäische Sicherheitscharta“ und
-  die 2010 vom OSZE-Gipfel in Astana verabschiedete „Gedenkerklärung von Astana“.
Wegen des nicht unerheblichen Umfangs der Ausarbeitung (76 Seiten Text) habe ich mich dafür entschieden, auch eine Kurzfassung anzubieten. In dieser sind die herangezogenen Quellen bzw. Materialien nicht ausführlich dargestellt, sondern lediglich benannt. Zwar ist der Schlussteil des Dokuments (mit aus der Kürzung resultierenden redaktionellen Anpassungen) in voller Länge enthalten; es ist jedoch möglich, dass einige der Ergebnisse ohne die Kenntnis der ausführlichen Darstellung nur schwer nachvollzogen werden können.

Wie Sie meiner Ausarbeitung entnehmen können, hat die Beschäftigung mit den darin aufgeworfenen Fragen, insbesondere aber die Lektüre von Wladimir Putins „Kriegserklärung“, meine Einstellung zum Einsatz von Waffen zur Sicherung des Friedens grundlegend verändert. Der Putin'sche Angriff auf die Ukraine, noch mehr aber die in seinem Zuge offensichtlich von russischen Streitkräften begangenen Gräueltaten an Zivilisten, haben mir deutlich gemacht, dass die lange auch von mir vertretene Devise „Frieden schaffen ohne Waffen“ in diesen Zeiten nicht mehr taugt. Sie muss ein – im Moment fernes – Ziel bleiben. Im Augenblick scheint es jedoch fast so, als müsse erneut ein „Gleichgewicht des Schreckens“ hergestellt werden, um von einer hohen Warte der Bewaffnung aus neue, diesmal wirklich konsequente Abrüstungsschritte vereinbaren zu können. Dass jedenfalls in der gegenwärtigen Situation eine Verweigerung von Waffenlieferungen an die Ukraine nicht nur für diese, sondern auch für andere Länder und selbst Deutschland sehr gefährlich werden könnte, habe ich in einer E-Mail vom 14. April 2022 dem evangelischen Landesbischof und Friedensbeauftragten der EKD, Friedrich Kramer, deutlich zu machen versucht.


Putins Krieg im eigenen Land

Wes Geistes Kind der russische Präsident Wladimir Putin ist, sollte spätestens seit seinem Überfall auf die Ukraine deutlich geworden sein. Doch seine größte Bedrohung darin sind sich viele Beobachter einig geht nicht etwa von der NATO aus; vielmehr fürchtet er ganz offensichtlich eine Gefährdung seiner Machtposition durch Bestrebungen nach Freiheit und Demokratie im eigenen Land. Bekannt ist in diesem Zusammenhang bereits, dass nicht zuletzt die Pressefreiheit in seinem Land immer weiter eingeschränkt worden ist. Wie perfide hierbei vorgegangen wird (und wie sich mutige Menschen dagegen zur Wehr setzten), zeigt ein beeindruckender Dokumentarfilm, der am Abend des 28. Februar 2022 im Ersten ausgestrahlt wurde. Er erzählt die Geschichte des Fernsehsenders „Doshd-TV“, der als chaotischer Lifestyle-Sender startete und später zu einem der wichtigsten unabhängig berichtenden Sender Russlands wurde. Dieser Beitrag ist noch bis zum 25.02.2023, 23.59 Uhr, in der ARD-Mediathek abrufbar. Unbedingt ansehen!!!


Erschütterungen

Update vom 02.03.2022: Die Serie der Erschütterungen in der deutschen Politik erreicht einen weiteren, dieses Mal recht unrühmlichen Höhepunkt: Wie am Morgen dieses Tages gemeldet wird, sitzt Altkanzler Gerhard Schröder allein in seinem Büro. Auch Ehrenmitgliedschaften und seine Ehrenbürgerschaft von Hannover stehen auf dem Spiel, sollte er weiterhin nicht bereit sein, seine Aufsichtsratsposten in russischen Gaskonzernen und bei den Pipeline-Betreibern aufzugeben. Zudem gärt es unter SPD-Mitgliedern; angesichts der kolportierten Äußerungen halte ich es sogar für möglich, dass es den einen oder anderen Antrag auf ein Parteiausschluss-Verfahren geben könnte. Nähere Informationen gibt es u.a. bei der FAZ und beim WDR. Man stelle es sich einmal vor: Ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler läuft Gefahr, aus einer Partei ausgeschlossen zu werden, die er einst selbst in die Regierungsverantwortung geführt hat! Irgendwie passt dazu auch noch eine Meldung vom Abend zuvor: Die Nordstream-II-Betreibergesellschaft ist pleite. Angesichts dieser Nachricht darf man gespannt sein, ob aus diesem Projekt noch jemals mehr werden kann als ein Milliardengrab.


Am vierten Tag nach Beginn des von Wladimir Putin angeordneten Überfalls auf die Ukraine, am 27. Februar 2022, trat der Deutsche Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen. Diese stellte – zumindest was die deutsche Sicht der Dinge anbetrifft – den vorläufigen Höhepunkt der politischen Erschütterungen dar, die dieses Ereignis ausgelöst hat.

Nichts ist mehr so, wie es einmal war – jedenfalls so gut wie nichts. Putins Handeln hat mit der Gewalt eines Hurrikans alte Gewissheiten hinweggefegt und die Grundsätze der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in ihren Grundfesten erschüttert. Nicht nur die deutschen, sondern auch europäische (insbesondere französische) Politiker mussten erkennen, dass sie vom russischen Präsidenten Wladimir Putin bei ihren Besuchen und den mit diesen verfolgten Bemühungen, den schwelenden Konflikt zu entschärfen und den angedrohten Einmarsch in die Ukraine noch zu verhindern, schlicht belogen worden waren. Für die deutsche Politik hat sich daraus offensichtlich die Notwendigkeit ergeben, einige Politikfelder grundlegend neu zu ordnen.

Wohl wichtigster Punkt ist die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigte Stärkung der Bundeswehr. Neben der Schaffung eines so genannten „Sondervermögens“ von 100 Mrd. Euro soll fortan das von der NATO vorgegebene Ziel, jährlich 2% des Bruttoinlandprodukts (BIP) für Verteidigungsausgaben bereitzustellen, übererfüllt werden. Eine entsprechende Finanzausstattung wurde in der an dessen Regierungserklärung anschließenden Debatte von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zugesagt, der in diesem Zusammenhang jedoch auch Strukturreformen bei der Bundeswehr anmahnte. Zugleich wurde vonseiten der Bundesregierung deutlich gemacht, dass trotz der durch den Ukraine-Krieg und die in diesem Zusammenhang gegen Russland verhängten Sanktionen entstehenden Mehrbelastungen die Maßnahmen zum Ausbau der erneuerbaren Energien nicht etwa eingeschränkt, sondern im Gegenteil ausgebaut werden sollen. Dies sei notwendig, um Deutschlands Abhängigkeit von Energielieferungen aus dem Ausland zu verringern. Dabei wurde ausdrücklich eingeräumt, sich in der Vergangenheit in viel zu hohem Maße von Gasimporten insbesondere aus Russland abhängig gemacht zu haben.

Bereits am Vorabend dieser Sondersitzung des Bundestages war bekannt geworden, dass die Bundesregierung ihren bisherigen Standpunkt zu eigenen Waffenlieferungen in die Ukraine aufgegeben habe. Mit der bisherigen Verweigerung solcher Lieferungen habe man Gesprächskanäle offen halten wollen; diese seien nun aber durch den bewaffneten Angriff auf die Ukraine von Putin selbst verschüttet worden. (Am Abend dieses Tages wurde zudem bekannt, dass auch die Europäische Union [EU] einen ihrer wichtigsten Grundsätze über Bord wirft und erstmals in ihrer Geschichte mit entsprechenden Hilfen an die Ukraine Geld für die Beschaffung von Waffen bereitstellt.)

Auch eine weitere Position hatte die Bundesregierung im Vorfeld der Bundestags-Sondersitzung aufgegeben und den Weg dafür frei gemacht, Russland weitestgehend aus dem „SWIFT“ genannten Banken-Informationssystem für internationale Zahlungen auszuschließen. Dieser Schritt war zuvor allerdings auch von einigen anderen europäischen Ländern blockiert worden, die in noch stärkerem Maße als Deutschland von russischen Erdgas-Lieferungen abhängig sind. Außenministerin Annalena Baerbock (GRÜNE) hatte in einem TV-Interview zudem argumentiert, dass bei einem vollständigen Ausschluss Russlands aus diesem System auch etwa Zahlungen zur Stärkung der russischen Zivilgesellschaft nicht mehr möglich wären. (Experten sind nach mir vorliegenden Informationen der Ansicht, dass die nun im Rahmen der EU-Beratungen gefundene Regelung noch immer zu viele Ausnahmen zulässt, um Russland wirklich „weh zu tun“.)

Meine Meinung: Um ehrlich zu sein: Auch einige meiner eigenen Meinungen und Überzeugungen sind durch die Ereignisse des 24. Februar 2022 nicht nur ins Wanken geraten, sondern regelrecht über den Haufen geworfen worden. Weil ich u.a. denke, dass ohne die in den 1970-er Jahren von Willy Brandt eingeleitete so genannte „Entspannungspolitik“ die deutsche Wiedervereinigung im Gefolge der Ereignisse des Jahres 1989 gar nicht möglich gewesen wäre, habe ich eine auf militärische Stärke setzende so genannte „Abschreckungspolitik“ (mit der ausdrücklichen Androhung des Einsatzes von Atomwaffen) immer mit großer Skepsis betrachtet. Und obwohl mir spätestens nach dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident klar war, dass die USA nicht mehr wie bisher für unsere (militärische) Sicherheit sorgen würden, habe ich mir darum keine besonderen Sorgen gemacht: Für mich war (anders als im „Kalten Krieg“, wie er im Prinzip bis zum Fall der Berliner Mauer herrschte) eine militärische Bedrohung durch Russland nicht nur nicht denkbar – sie war schlicht nicht existent. Auch die Ereignisse des Jahres 2014, als Putin die Krim annektierte und Separatisten Teile des Donbass vom ukrainischen Staatsgebiet abtrennten, hatten hieran nichts geändert. Vielmehr fragte ich mich nach wie vor (seit der einseitigen Auflösung des so genannten „Warschauer Paktes“ im Jahr 1991), warum sich nicht auch die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges aufgelöst habe, sondern sich im Gegenteil nach Osten erweiterte. Auch ich gehörte seinerzeit zu denen, die dies für die Ereignisse in der Ukraine (mit-)verantwortlich machten. (Ob dies so war und inwieweit die gesamte diesbezügliche Entwicklung für die aktuellen Ereignisse verantwortlich ist, versuche ich gerade herauszufinden; das Ergebnis werde ich auf diesen Seiten veröffentlichen.)

Zwar habe ich damals ohne Wenn und Aber die Annexion der Krim und die Besetzung von Teilen der Ost-Ukraine verurteilt und mich in der Folge häufig gefragt, warum die freie Welt nicht schärfer hierauf reagierte. Auch immer wieder aufkommende Forderungen nach Lockerung oder gar Aufhebung der deswegen gegen Russland verhängten Sanktionen habe ich immer abgelehnt – wie übrigens von Anfang an das Projekt „Nordstream II“, das ich unmittelbar als eine Verletzung eben dieser Sanktionen verstanden habe. Auch die Notwendigkeit höherer Verteidigungsausgaben habe ich in Frage gestellt bzw. die Auffassung vertreten, dass hier auch Projekte der Entwicklungszusammenarbeit angerechnet werden sollten. Aber jedenfalls bis zum 16. Februar 2022 (jenem Tag, an dem während der Moskauer Gespräche zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und Putin bekannt wurde, die Duma habe Putin aufgefordert, die von Separatisten besetzten Gebiete des Donbass als unabhängige „Volksrepubliken“ anzuerkennen) habe ich nicht ernsthaft daran geglaubt, es könne einen russischen Einmarsch in die Ukraine geben.

In der Bundestagssitzung war im Zusammenhang mit diesem Einmarsch immer wieder vom Eintritt einer „Zeitenwende“ die Rede. Bereits in meiner am Tage dieses Einmarsches auf dieser Seite veröffentlichten Einschätzung zu den Ereignissen des 24. Februar 2022 (s.u.) habe ich – wenn auch mit anderen Worten – diese Auffassung vertreten. Für mich ist mit der Verfolgung dieser Sitzung am Fernseher auch hinsichtlich der Beurteilung der deutschen Politik diese Zeitenwende eingetreten. Die von Deutschland verfolgte Friedenspolitik der letzten dreißig Jahre – so richtig sie anfangs auch gewesen sein mag – muss auch ich nunmehr als verfehlt bzw. gescheitert ansehen. Und ich muss – leider – denjenigen glauben, die attestieren, die Bundeswehr habe erhebliche Defizite bei Ausrüstung und Material und bedürfe auch einer inhaltlichen Neuorientierung.
 
Die Bedrohung, die wir alle nicht wahrhaben wollten, ist da – plötzlich und (relativ) unerwartet. Und sie wird – neben den zerstörten Gewissheiten – auch noch Geld kosten; viel Geld. Da sind nicht nur die einhundert Milliarden plus die zusätzlichen jährlichen Euro für die Bundeswehr; es müssen auch noch höhere als die bisher schon kalkulierten Energiepreissteigerungen gestemmt werden und höhere Kosten für eine schnellere Energiewende. Dazu können Einbußen bei der Wirtschaftsentwicklung (etwa durch ausbleibende Geschäfte mit Russland und möglicherweise auch dem an den kriegerischen Aktionen gegen die Ukraine beteiligten Belarus) nicht ausgeschlossen werden, wodurch weniger Geld zur Verfügung stehen könnte. Zwar ist es völlig richtig, was Politiker in diesem Zusammenhang in den letzten Tagen immer wieder betonen: Freiheit (oder besser: die Verteidigung der Freiheit) hat ihren Preis. Aber diesen Preis dürfen nicht allein die Bürgerinnen und Bürger bezahlen (müssen).

In der Bundestagsdebatte vom 27. Februar 2022 hat Bundesfinanzminister Lindner erklärt: Die Schuldenbremse bleibt bestehen!“ Und der Oppositionsführer und CDU-Vorsitzende Friedrich Merz machte bei der Erklärung der Unterstützung seiner Fraktion für die Mehrausgaben der Bundeswehr darauf aufmerksam, dass die Schaffung eines Sondervermögens auch „neue Schulden“ bedeute. Gerade weil ich die Notwendigkeit eines Umdenkens in dem hier beschriebenen Sinne anerkenne. appelliere ich an die Notwendigkeit des Umdenkens in einem weiteren Bereich: Jetzt Sicherheit zu schaffen, schafft auch (und gerade) Sicherheit für künftige Generationen. Daher sollte intensiv darüber nachgedacht werden, wie die nun entstehenden Belastungen zu finanzieren sind. Kann es unter diesem Gesichtspunkt wirklich ein Tabu sein, noch einmal (selbstverständlich beschränkt auf die Zeit bis zur Beilegung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine) die Schuldenbremse auszusetzen? Zur Begleichung der durch die Corona-Krise bedingten Mehrausgaben war dies kein Problem, obwohl mit deren Begleichung „nur“ gegenwärtige (und eben keine Zukunfts‑)Probleme bewältigt werden mussten.

Ein Letztes ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: Die Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Ali Mohammed, erklärte in ihrem Debattenbeitrag, die massiven Investitionen in die Aufrüstung der Bundeswehr werde ihre Fraktion nicht mittragen, weil die Partei dies für den falschen Weg halte (zuvor hatte sie übrigens sinngemäß erklärt, man habe sich mit der bis dato erklärten Unterstützung für Wladimir Putin komplett auf einem falschen Weg befunden; allerdings bedachten nicht alle Fraktionsmitglieder dies mit Beifall). Auch ich denke, dass nur immer mehr Aufrüstung nicht die Lösung des Problems sein kann, den Frieden auf dieser Welt zu erhalten; die aktuellen Ereignisse haben mir jedoch gezeigt, dass der seinerzeitige Bundeskanzler Helmut Schmidt mit seiner Forcierung des so genannten „NATO-Doppelbeschluss(es)“ in den 1970-er Jahren möglicherweise doch nicht so unrecht hatte, wie ich bislang immer dachte. Abrüstung zu wollen, muss das Ziel sein; es kann aber offensichtlich nur aus einer Position der (militärischen) Stärke heraus erreicht werden. Wladimir Putin hat mir dies gezeigt (dankbar bin ich ihm hierfür dennoch nicht).

Hinweis: Dieser Komplex ist außerordentlich vielschichtig, es gibt eine schier unendliche Fülle von Informationen. Da ich diese Webseite als „Einzelkämpfer“ betreibe und folglich alle hier vermittelten Informationen selbst zusammentragen, auswerten und verarbeiten muss sollte nachvollziehbar sein, dass ich mich hier auf die absolut wesentlichen Aspekte dieses Konflikts beschränken muss. Ich bitte daher die Besucher*innen dieser Seite nochmals, sich über die zur Verfügung stehenden (vorzugsweise öffentlich-rechtlichen) Medien über die über diese Darstellungen hinausgehenden Aspekte zu informieren.

Es gibt wieder Krieg in Europa!                                                                                 

„Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen!“ – diese im deutschen Radio von Adolf Hitler gesprochenen Worte, die am 1. September 1939 den Beginn des Zweiten Weltkriegs markierten, gingen mir immer wieder durch den Kopf, nachdem Russland in den letzten Wochen und Monaten immer mehr Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzog und immer mehr geheimdienstliche Einschätzungen auftauchten, es solle ein Vorwand geschaffen werden, der es Russlands Präsident Putin erlauben würde, einen Angriff auf die Ukraine anzuordnen.

Seit dem frühen Morgen des 24. Februar 2022 wird „zurückgeschossen“! Nachdem zwei Tage zuvor zwei von Separatisten besetzte Gebiete im ukrainischen Donbass von Putin als unabhängige „Volksrepubliken“ anerkannt worden waren, mit denen gleichzeitig ein militärischer Beistandspakt abgeschlossen wurde, hat er in einer ab 5.30 Uhr gehaltenen TV-Ansprache den Beginn des Angriffs auf die Ukraine verkündet. Begründet hat er diesen Schritt mit einem angeblich in diesen Gebieten stattfindenden „Völkermord“, vor dem die dortige (russisch-stämmige) Bevölkerung geschützt werden müsse.

Dieser Schritt bedeutet nicht nur einen Angriff auf die Ukraine. Er bedeutet vielmehr einen Angriff auf die gesamte Weltordnung, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg – nicht zuletzt durch die Gründung der Vereinten Nationen – etabliert hat. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass der Angriff während einer Sitzung des UN-Weltsicherheitsrats zu dieser Krise vom russischen UN-Botschafter verkündet wurde: Ein Akt, der allen von den Vereinten Nationen erarbeiteten und verkündeten Regeln widerspricht, wird vor dem höchsten Gremium dieser Weltorganisation verkündet.

Damit ist zugleich die Funktionsfähigkeit der UN in Frage gestellt. Nach deren Gründung wurde – als verständliche Reaktion auf die zum Zweiten Weltkrieg führenden Ereignisse – der Weltsicherheitsrat als Gremium zur Friedenssicherung geschaffen und die so genannten „Siegermächte des Zweiten Weltkriegs“ mit einem Vetorecht ausgestattet. Das waren ursprünglich die USA, die Sowjetunion (UdSSR), Großbritannien und Frankreich. Später kam die Volksrepublik China als 5. Vetomacht hinzu, Russland trat nach der Auflösung der UdSSR deren Rechtsnachfolge an. Bei der Installation dieser Vetomächte wurde (neben anderen Erwägungen) offenbar davon ausgegangen, dass von diesen Mächten keine unmittelbaren Angriffe auf den Weltfrieden ausgehen würden. Zwar gibt es für diese Mächte ein Gebot für eine Stimmenthaltung, wenn eine direkte Verwicklung in einen Konflikt gegeben ist. Diese Regelung hat sich jedoch in der Vergangenheit als weitgehend unwirksam erwiesen.

Meine Meinung: Wladimir Putin hat zunächst die Wahrung russischer Sicherheitsinteressen als Grund für den Militäraufmarsch an den Grenzen der Ukraine geltend gemacht. Er hat allerdings auch den Untergang der Sowjetunion Anfang der 1990-er Jahre als „größte geopolitische Katastrophe“ seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Zudem hat er in den letzten Jahren immer wieder Maßnahmen zum „Schutz“ russisch-stämmiger Bevölkerungsteile in anderen Ländern ergriffen. Zu nennen wären hier beispielsweise Konflikte in Georgien (Abchasien), die Annexion der Krim und von Teilen des ukrainischen Donbass ab 2014 und die faktische Abspaltung der Region Transnistrien der Republik Moldau. In mehreren Reden der letzten Zeit hat er darüber hinaus die Ukraine „in ihrer gegenwärtigen Gestalt“ als eine Bedrohung für sein Land bezeichnet und ihr das Recht auf eine Eigenstaatlichkeit abgesprochen.

Alles dies stimmt mich sehr bedenklich. Es erinnert mich in sehr fataler Weise an die Ereignisse in den Jahren 1938/39. 1938 stand Europa bereits an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg, als Adolf Hitler die Eingliederung des Sudetengebietes mit dem Argument forderte, deutsche Volksgruppen müssten in das Deutsche Reich eingegliedert werden („heim ins Reich“). Dem wurde nachgegeben, um einen Kriegsausbruch zu vermeiden (der dann letztlich doch erfolgte – nicht zuletzt, weil Hitler ihn unbedingt wollte). Möglicherweise kann dies mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 verglichen werden, die bis auf die Verhängung von Sanktionen folgenlos blieb. Nun erfolgt ein direkter Angriff auf die Ukraine, über dessen Ausmaß am Vormittag des 24. Februar 2022 noch große Unklarheiten bestehen. Russland gibt derzeit an, nur militärische Infrastruktur anzugreifen; es gibt jedoch im Augenblick (10.57 Uhr MEZ) durchaus Anzeichen dafür, dass auch andere Ziele betroffen sein könnten. Dies ist in gewisser Weise mit dem deutschen Angriff auf Polen zu vergleichen: Auch dieser erfolgte unter einem (so nicht gegebenen) Vorwand, und auch Polen war (jedenfalls faktisch) seinerzeit ohne Verbündete. Zwar erklärten Großbritannien und Frankreich in der Folge dem Deutschen Reich dem Krieg; dies blieb jedoch zunächst folgenlos. Bezüglich der Ukraine ist ein direktes Eingreifen der NATO ebenfalls ausgeschlossen. Angesichts der erwähnten (und weiterer) Äußerungen Putins stellt sich jedoch die Frage, ob sein Vorgehen auf die Ukraine beschränkt bleiben wird. Auch in den baltischen Republiken, die – anders als die Ukraine – Mitglieder der NATO sind, leben größere russisch-stämmige Minderheiten.

Ausblick: Dies ist eine erste Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine. Bereits nach der Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk auf dem Gebiet des ukrainischen Donbass durch den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin habe ich Recherchen begonnen, um mich näher über die Hintergründe des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine zu informieren und hierzu eine Ausarbeitung zu veröffentlichen. Die Arbeit hieran werde ich fortsetzen und das Ergebnis zu gegebener Zeit präsentieren. Bitte informieren Sie sich in der Zwischenzeit anhand der Medien über die weitere Entwicklung.


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