Keine neuen Nazis!
Landratswahl in Sonneberg – wo sind die „echten“ Demokraten?
Update vom 28.06.2023: Es ist doch eingetreten: trotz des Aufrufs der demokratischen Parteien (einschließlich der LINKEN!), bei der Stichwahl für das Amt des Landrats im thüringischen Kreis Sonneberg für den CDU-Bewerber und Amtsinhaber Jürgen Köpper zu stimmen, wurde nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis der AfD-Politiker Robert Sesselmann mit 52,8 % der abgegebenen gültigen Stimmen in das Amt gewählt. Jürgen Köpper erhielt 47,2 %, die Wahlbeteiligung lag bei 59,6 %. Obwohl sie also (was erklärtes Ziel der Köpper unterstützenden Parteien war) um etwa 10 % höher lag als im ersten Wahlgang, konnte das gemeinsame Ziel, die Wahl des AfD-Mannes zu verhindern, nicht erreicht werden.
Das allgemeine Entsetzen, die allgemeine Ernüchterung waren groß. Antworten auf das „Warum“ wurden gesucht – und (häufig viel zu schnell) gefunden: Für den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz war es die Unfähigkeit der Berliner „Ampel“-Koalition, die Menschen auf dem Weg in die Energiewende mitzunehmen. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken räumte zwar ein, es sei der Regierung in letzter Zeit nicht mehr in hinreichendem Maße gelungen, den Menschen ihre Politik zu erklären, schob aber auch Friedrich Merz ob seiner Wortwahl in vielen Reden und Äußerungen (so hatte er etwa nach den Berliner Silvester-Krawallen von „kleinen Paschas“ an den Schulen gesprochen, deren Väter für die Entwicklung mitverantwortlich seien) eine Mitschuld zu. Die GRÜNEN-Vorsitzende Ricarda Lang räumte ebenfalls eine mangelnde Kommunikation der „Ampel“-Regierung ein, beklagte aber auch, dass die Parteien zu viel auf die jeweils anderen zeigen würden. Und der thüringische CDU-Landesvorsitzende wollte sich im „tagesthemen“-Interview am 26.06.2023 (ab Minute 7:39 des Videos) eine Mitschuld am Sieg Sesselmanns keinesfalls zuweisen lassen, obwohl ihm Moderatorin Caren Miosga einen Monat alte Äußerungen aus einem Interview mit der „BILD“-Zeitung vorhalten konnte, die man wohl eher aus dem Mund eines AfD-Politikers erwartet hätte als aus dem eines CDU-Landesvorsitzenden. Seitens der FDP ist mir bemerkenswerterweise weder eine Schuld-Zuweisung an andere noch die Einräumung einer solchen eigenen bekannt geworden.
Noch einmal meine Meinung zu diesen Vorgängen: Es ist unfassbar: ein Aufruf aller demokratischen Parteien, mit der Stimme für einen Kandidaten aus ihren Reihen die Wahl des Kandidaten einer Partei zu verhindern, die in gerade diesem Bundesland vom dortigen Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft ist (und gegen deren Landesvorsitzenden die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt), führt nicht zum Erfolg. 52,8 Prozent derjenigen Menschen, die bei dieser Wahl eine gültige Stimme abgegeben haben, entscheiden sich für den Kandidaten eben dieser Partei. Ich muss gestehen, dass ich mit einem solchen Ergebnis schlicht nicht gerechnet habe. Dass die AfD in diesem Wahlkampf ausschließlich auf bundespolitische statt auf regionale Themen gesetzt und somit die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Arbeit der Bundesregierung zu bedienen versucht hatte, mag es ein Stück weit erklärbarer machen, reicht mir aber als Erklärung bei Weitem nicht aus. Dass die Haltung „alle gegen die AfD“, die die demokratischen Parteien mit dem Unterstützungs-Aufruf für den Gegenkandidaten an den Tag gelegt haben, eine Art „Trotzreaktion“ ausgelöst hat, wie eine Politikwissenschaftlerin vermutet, mag sein; allerdings frage ich mich auch hier, ob das als Erklärung hinreichend sein kann. Die Reaktionen der demokratischen Parteien könnten erste Hinweise geben: es fällt auf, dass zwar zum Teil Fehler eingestanden werden, überwiegend jedoch die Fehler bei den jeweils anderen (Parteien) gesucht werden. In besonderer Weise trifft diese Haltung auf die CDU zu, und in sehr besonderer Weise zeigt sich diese Haltung in dem Interview, das der thüringische Landesvorsitzende dieser Partei, Mario Voigt, den „tagesthemen“ am Tag nach dieser Wahl gab. Obwohl er einen Monat zuvor der „BILD“ ein Interview gab, in dem er Begriffe aus der (zweit)finstersten Ära der deutschen Geschichte, der DDR, auf die demokratisch gewählte aktuelle Bundesregierung anwandte, wies er eine Mitverantwortung für den AfD-Wahlerfolg im Kreis Sonneberg weit von sich; was ich davon halte und wie ich eine solche Haltung bewerte, habe ich ihm am Tag nach diesem Interview in einer E-Mail mitgeteilt.
Zum ersten Mal, seit ich diese Website mit einem neuen Design und einem neuen Motto etabliert habe, sehe ich mich genötigt, an das gewählte Zitat von Albert Einstein zu erinnern: „Hört nicht auf die Person, die Antworten hat, hört auf die Person, die Fragen hat.“ Was meine ich? Die Erklärungsversuche für dieses Desaster der demokratischen Parteien, die ich oben andeutungsweise wiedergegeben habe, enthalten mir zu viele Antworten und zu wenige Fragen. Das ist das Erste. Ich habe dagegen schon einige Fragen, auf die ich bis jetzt noch keine Antworten finden konnte und auf die ich vielleicht niemals welche bekommen werde: Wie vielen Menschen in Deutschland ist klar, wie aller Voraussicht nach unsere (und damit auch ihre) Zukunft aussehen wird? Wie vielen Menschen ist klar, dass unser aller Wohlstand langfristig davon abhängen wird, dass Menschen aus anderen Ländern – auch außerhalb Europas – zu uns nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten? Wie vielen Menschen ist klar, dass wir nicht nur hochgebildete Ingenieure, IT-Fachleute oder Mediziner brauchen werden, sondern auch beispielsweise Leute, die in Handwerksbetrieben „den Laden am Laufen halten“ oder den Müll wegräumen? Wie vielen Menschen ist klar, dass die Bekämpfung des Klimawandels und seiner Folgen auch unsere Sache sein muss: zum einen, weil wir Technologien entwickeln und Beispiele dafür geben müssen, wie andere Länder, die eben mehr als nur zwei Prozent zur Erderwärmung beitragen, ihren Beitrag hierzu reduzieren können, zum anderen, weil eben dieser Wandel ohne Bekämpfung die Migrationsbewegungen auslösen wird, vor denen sich seine Leugner so sehr fürchten? Wie vielen Menschen ist bewusst, dass die Menschheit mit einer weiteren, womöglich noch bedrohlichen Herausforderung konfrontiert ist: mit dem massiven, durch menschliches Handeln bewirkten Artensterben, das das Potenzial besitzt, letztlich sogar die menschliche Rasse selbst auszulöschen? Und – last but not least: Wie viele Menschen machen sich eigentlich klar, dass es in Deutschland starke Kräfte gibt, die ein ganz anderes Deutschland wollen – ein Deutschland ohne persönliche Freiheit, aber mit unglaublich viel Hass?
Das Zweite, worauf ich mit diesem Zitat hinweisen möchte, ist die Tatsache, dass die AfD zwar enorm viele Antworten parat zu haben scheint, sie zu hinterfragen aber kaum zulässt. Sie greift – durchaus berechtigte – Sorgen der Menschen auf, artikuliert sie, ohne aber Lösungen anzubieten; wenn sie Lösungen anbietet, dann sind es bei näherem Hinsehen Scheinlösungen, die Deutschland nicht weiterbringen, sondern vielmehr zurückwerfen werden. Sicher sind auch Antworten nötig, denn ohne Antworten können keine Fragen beantwortet werden, und ohne Beantwortung von Fragen kann es keine Weiterentwicklung geben. Aber jede der gegebenen Antworten muss auch wieder hinterfragt werden dürfen, weil ansonsten auch wieder Stillstand droht.
Am 25. Juni 2023 greift die AfD (die selbsternannte „Alternative für Deutschland“) – erneut – nach einem hohen Amt in der Kommunalpolitik. Nachdem ihr Kandidat Leif-Erik Holm bei der Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns, Schwerin, am 18. Juni 2023 gegen den SPD-Kandidaten (und Amtsinhaber) Dr. Rico Badenschier recht eindeutig mit 32,2 % der abgegebenen Stimmen (Wahlbeteiligung: 49,3 %) verloren hatte, tritt an diesem Tag bei der Wahl des Landrates im thüringischen Sonneberg der AfD-Kandidat Robert Sesselmann gegen den CDU-Bewerber Jürgen Köpper an. Im ersten Wahlgang hatte Sesselmann mit 46,67 % der abgegebenen Stimmen (die Wahlbeteiligung wird mit „gut 49 Prozent“ angegeben) die notwendige Mehrheit für eine direkte Wahl in das Amt nur knapp verfehlt und Köpper mit einem satten Vorsprung (er erreichte 35,71 %) auf Platz zwei verwiesen. Das Entsetzen unter den „etablierten“ Parteien war entsprechend groß. Um eine Wahl des AfD-Kandidaten in dieses nicht ganz unwichtige Amt doch noch zu verhindern, rief sogar die LINKE zuletzt zur Unterstützung Köppers auf.
Meine Meinung: Wäre an diesem 25. Juni 2023 nicht „nur“ zu einer Landratswahl im thüringischen Kreis Sonneberg aufgerufen, sondern zur Wahl eines neuen Deutschen Bundestages, dann könnte die AfD laut dem neuesten ARD-„Deutschland-Trend“ nicht nur ein vergleichsweise unwichtiges, wenngleich äußerst symbolträchtiges Landrats-Amt besetzen, sondern sogar zweitstärkste Kraft in unser aller Volksvertretung werden. Das sind wahrlich erschreckende, beunruhigende Nachrichten und Zahlen. Auf die Gründe für diese Entwicklung einzugehen ist von mir nicht zu leisten; dies überlasse ich gerne Menschen, die hierzu berufener und kompetenter sind als ich. Ich greife diese Ereignisse deshalb auf dieser Seite auf, weil ich auf die wahrlich interessante Entwicklung hinweisen möchte, die die Dinge im Kreis Sonneberg genommen haben: Hier scheint sich gerade die Frage neu zu stellen, wo in Deutschland Demokraten und Anti-Demokraten zu suchen (bzw. zu finden) sind.
Was meine ich? Wenn die CDU im Anschluss an eine Wahl die Möglichkeit hatte, in Regierungsverantwortung zu kommen, war immer davon die Rede, man wolle „mit allen demokratischen Parteien“ sprechen. Mit dieser Formulierung war bisher – ganz selbstverständlich – nicht nur die AfD, sondern ebenso die LINKE von derartigen Gesprächen ausgeschlossen. Und nun ruft eben diese LINKE zur Unterstützung eines CDU-Kandidaten auf, um die Wahl eines AfD-Mannes in ein vergleichsweise hohes politisches Amt zu verhindern. Das wirft die – durchaus brisante – Frage auf, ob die Frage nach den „echten“ Demokraten nicht neu gestellt, neu überdacht werden sollte – vielleicht sogar muss. Insoweit ist bemerkenswert, dass DIE LINKE in der Vergangenheit in recht großem Umfang durch das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet wurde, sich diese Beobachtung jedoch aktuell offensichtlich lediglich noch auf einige „extremistische Gruppierungen innerhalb der Partei“ erstreckt. Dagegen darf die AfD seit März 2022 in Gänze als rechtsextremistischer „Verdachtsfall“ von eben diesem Bundesamt beobachtet werden, und die thüringische AfD darf gar als „erwiesen (rechts)extremistisch“ vom zuständigen Landesamt für Verfassungsschutz mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werden. Deren Vorsitzender Björn Höcke sieht sich gar seit Anfang Juni 2023 mit staatsanwaltlichen Ermittlungen wegen des Verdachts der Volksverhetzung konfrontiert. Und schließlich ist noch erwähnenswert, dass sich bislang niemand aus der CDU – auch nicht aus deren Führungsriege – gegen die angekündigte Unterstützung Köppers verwahrt hat.
So weit, so (hoffentlich) gut: die Front gegen die Wahl des AfD-Kandidaten scheint zu stehen. Ob sie erfolgreich sein wird, wird sich am Abend des Wahltages nach der Schließung der Wahllokale um 18.00 Uhr zeigen. Aber mir stellt sich die Frage, wie es mit der (aus meiner Sicht zwingend notwendigen) Front der demokratischen Kräfte gegen die AfD weitergehen wird. DIE LINKE hat mit ihrem geschilderten Verhalten ihre Bereitschaft gezeigt, zur Verhinderung der Wahl eines Kandidaten aus einer erwiesen antidemokratischen Partei über ihren eigenen Schatten zu springen und den Kandidaten einer Partei zu unterstützen, von der sie ganz offiziell als „antidemokratisch“ eingestuft wird. Was aber würde geschehen, wenn sich in einer künftigen Stichwahl einmal ein AfD-Kandidat mit einem Bewerber der LINKEN messen müsste? Wäre dann auch die örtliche (bzw. regionale) CDU bereit, diesen zu unterstützen, um die Wahl des AfD-Kandidaten zu verhindern? Eine spannende Frage – an deren Antwort sich einst erweisen könnte, wo die „echten“ Demokraten zu finden sind. (Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden, dass es in den östlichen Bundesländern nicht gerade wenige CDU-Politiker gibt, die sich eine Zusammenarbeit mit der AfD durchaus vorstellen können.)
Wie sich Jugendliche radikalisieren
Wie groß die Gefahr ist, dass sich auch und gerade Jugendliche und junge Menschen im „Netz“ radikalisieren und damit zu einer nicht zu vernachlässigenden Gefahr für unsere Demokratie werden, haben zwei in der Woche vom 18. - 24. Juli 2022 in der ARD ausgestrahlte Dokumentationen gezeigt: Die BR-Dokumentation „Liken. Hassen. Töten“ (Video abrufbar bis 19.07.2027, 16.55 Uhr) beschreibt sehr eindringlich anhand des Beispiels des Falles des seinerzeit 19-jährigen Schülers David Sonboly, der am 22. Juni 2016 in München bei einem Anschlag im Münchner Olympia-Park neun Menschen mit Migrationshintergrund und anschließend sich selbst tötete, wie Gaming-Portale einen Zugang zu rechtsradikalen Netzwerken verschaffen können. Dieser Zugang wiederum führt in eine Community, in der Hass, Gewalt und Amoktaten nicht nur verherrlicht werden, sondern die zu solchen Taten geradezu anleitet und herausfordert – und das international, weltweit. Wieder einmal wird deutlich, dass die Bezeichnung „Einzeltäter“ in diesen Fällen völlig an der Realität vorbeigeht, weil ein weltweit agierendes Netzwerk hinter diesen Taten steht. Ebenso deutlich wird, dass die deutschen Ermittlungsbehörden diesem Umstand noch immer viel zu wenig Beachtung schenken.
Das MDR-Magazin „FAKT“ deckt in einer weiteren Dokumentation auf, wie rechte Kleinstparteien versuchen, Jugendliche für ihre Ziele zu gewinnen. „Jung, rechts, gewaltbereit“ (Video abrufbar bis 19.07.2023, 22.00 Uhr) zeigt auf, wie in Zwickau und Umgebung ein Sozialarbeiter versucht, bereits radikalisierte Jugendliche von diesem Weg wieder abzubringen. Beschrieben werden dabei auch Bemühungen der Kleinstpartei „Der III. Weg“, Jugendliche an die Anwendung von Gewalt heranzuführen und so auf den von ihr ersehnten und propagierten „Tag X“, den Tag eines gewaltsamen Umsturzes, vorzubereiten. In dieser Doku wird u.a. deutlich, wie gefährlich es ist, wenn kommunale Freizeitangebote für Jugendliche immer weiter zurückgefahren werden. Auch der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) entstand nicht zuletzt aus einer solchen Gemengelage.
„Corona“, die Grundrechte und Demonstrationen
„Die Grundrechte sind keine Belastung. Sie sind nichts, was in Pandemiezeiten kleiner gemacht oder weggeschoben werden kann.“ Diese Worte sprach Michael Ballweg, Begründer der „Querdenken“-Bewegung, auf einer Demonstration am 3. April 2021 in Stuttgart, die sich einmal mehr – vorgeblich – gegen die Maßnahmen richtete, die von Bund und Ländern zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie angeordnet worden sind. Dokumentiert sind diese Worte u.a. in der „tagesthemen“-Sendung dieses Tages.
Ballweg hat Recht. Nur: Er übersieht etwas. Und er übersieht es, weil er es übersehen will. Die Grundrechte sind keine Belastung; das ist soweit richtig. Aber sie gelten nicht nur für die, die demonstrieren wollen. Und: Das Wort „Grundrechte“ zeigt uns durch seine Plural-Form, dass es nicht nur ein Grundrecht gibt, etwa das auf die Demonstrationsfreiheit. Zudem sind die Grundrechte nicht unbeschränkt: jedes Grundrecht findet seine Grenze dort, wo durch seine Ausübung die Grundrechte oder die Freiheit anderer Bürger beeinträchtigt oder gefährdet werden. Alles das kann im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nachgelesen werden, das Michael Ballweg und die von ihm gegründete Bewegung angeblich verteidigen wollen.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das über die Einhaltung des Grundgesetzes zu wachen hat, hat in einer Vielzahl von Entscheidungen betont, dass ein Pandemiegeschehen allein kein Grund sein kann und darf, eine Demonstration zu verbieten. Es hat aber auch deutlich gemacht, dass ein solches Geschehen Anlass sein kann, die Durchführung einer Demonstration nur bei Einhaltung bestimmter Regeln zu erlauben. Werden diese Regeln nicht eingehalten, kann die Demonstration aufgelöst werden. Wenn es im Vorfeld Anzeichen gibt, dass bei einer Demonstration auferlegte Regeln mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht eingehalten werden, kann diese verboten werden. Auch dies ist vom BVerfG bereits bestätigt worden (vgl. Artikel „‚Querdenken‘-Demo in Bremen verboten“ weiter unten auf dieser Seite).
Die Ausübung der Grundrechte, wie sie Michael Ballweg zu verstehen scheint und wohl auch verstanden wissen möchte, lief nur leider an diesem 3. April 2021 wie bereits zwei Wochen zuvor bei einer von dieser Bewegung angemeldeten Demonstration in Kassel wie schon so oft aus dem Ruder. Nicht nur, dass die angemeldete Teilnehmerzahl bei weitem überschritten wurde (in Stuttgart waren es 10.000 Teilnehmer statt der angekündigten 2.500), auch die Auflagen wie das Tragen von Schutzmasken oder das Einhalten von Abständen wurden nicht eingehalten. Auch wurden Journalisten angegriffen und bei ihrer Arbeit behindert; ein ARD-Team musste den Angaben zufolge sogar die Berichterstattung abbrechen. Auch sie verteidigen ein Grundrecht: das der Pressefreiheit. Die Polizei schritt – wie schon zuvor in Kassel – so gut wie nicht ein. Wurde seinerzeit geltend gemacht, eine Auflösung der Demonstration sei wegen der hierbei notwendigen Gewaltanwendung und der hierdurch zu erwartenden Eskalation nicht möglich gewesen, hieß es nun, bei einem Eingreifen wären die Teilnehmer noch weiter zusammengedrängt und somit einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt worden.
Meine Meinung: Mehrere Dinge sind hier bemerkenswert. Lassen Sie mich mit dem unwichtigsten beginnen: Michael Ballweg hat eingestanden, dass es eine Pandemie gibt (nach meiner Kenntnis haben er und seine Bewegung dies bislang geleugnet). Lehren scheint er hieraus allerdings nicht gezogen zu haben, wie die weiterhin praktizierte Missachtung der Demonstrations-Auflagen zeigt. Wichtiger: Die Polizei hat weder in Stuttgart noch zwei Wochen zuvor in Kassel Anstalten gemacht, die Demonstration aufzulösen, obwohl jeweils die Missachtung der Auflagen offenkundig war. Der hessische Innenminister hat hierzu eine Untersuchung angekündigt. Aber: Kann man der Polizei dies wirklich zum Vorwurf machen? Konnte man ernsthaft erwarten, sie würde eine Demonstration von mehren tausend, im Falle von Stuttgart zehntausend, möglicherweise teils gewaltbereiten Demonstranten auflösen? Hier kommen wir nun zum bemerkenswertesten Umstand: Dem Versagen der Behörden! Aus den Ereignissen des letzten Jahres ist hinreichend bekannt, dass Auflagen bei von der „Querdenken“-Bewegung angemeldeten Demonstrationen immer wieder und durchaus systematisch missachtet werden. Die Behörden in Bremen haben Anfang Dezember 2020 (wie erwähnt) die Lehren hieraus gezogen und eine geplante Demo verboten. Die Rechtmäßigkeit dieses Verbotes ist sogar vom BVerfG bestätigt worden. Weshalb, so frage ich mich als Bürger, der sehr wohl unsere Demokratie in Gefahr sieht, wenngleich aus einer anderen Ecke als die Kasseler und Stuttgarter Demonstranten, werden unter diesen Umständen überhaupt noch von dieser Bewegung angemeldete Demonstrationen genehmigt? Weshalb wird die Polizei von den lokalen Behörden mit Aufgaben allein gelassen, deren Bewältigung ihr objektiv unmöglich ist? Wird von der Verwaltung und den sie beauftragenden Politikern die verheerende Wirkung nicht gesehen, die mit dem Nichteingreifen der Polizei in diesen Fällen verbunden ist und in der bereits erwähnten „tagesthemen“-Sendung von der Sozialpsychologin Pia Lamberty beschrieben wurde? Sie erläuterte sehr nachvollziehbar, dass so die Bewegung in ihrer Haltung bestärkt werde und zudem sogar der Eindruck entstehen könne, die Polizei billige ihre Ziele und sei bereit, mit ihr gemeinsame Sache zu machen.
Dass man auch unter „Corona“-Bedingungen angemessen demonstrieren kann, zeigen übrigens gerade die Teilnehmer der alljährlichen Ostermärsche. Sie halten die für Demonstrationen geltenden Auflagen hinsichtlich Maskentragen und Abstand halten ein. Das zeigt einmal mehr, dass die „Querdenken“-Demonstranten (jedenfalls ein nicht unbeträchtlicher Teil von ihnen) weit mehr als nur einen Protest gegen die „Corona“-Schutzmaßnahmen im Sinn haben.
Ich frage mich: Wann wachen unsere Behörden endlich auf, wann beginnen sie endlich, den Kampf gegen Rechts wirklich ernst zu nehmen???
Urteil im Mordprozess Walter Lübcke – hat das OLG Frankfurt versagt?
Der Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt/Main hat am 28. Januar 2021 das Urteil in dem Verfahren um den Mord an dem ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gesprochen, der in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 auf der Veranda seines Hauses in Wolfhagen-Istha aus nächster Nähe durch einen gezielten Kopfschuss getötet worden war. Der Angeklagte Stephan E., der bereits mehrfach wegen rechtsradikaler Tendenzen aufgefallen und auch bereits wegen rechtsextrem motivierter Straftaten rechtskräftig in Haft gesessen hatte, wurde wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Zudem wurde eine „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt; dies schließt aus, dass nach einer Haftzeit von 15 Jahren im Wege einer Begnadigung eine Freilassung auf Bewährung erfolgen kann. Eine sich an die Haft anschließende Sicherungsverwahrung wurde nicht angeordnet; die Prüfung einer solchen Anordnung behielt sich das Gericht jedoch vor.
Mitangeklagt war der ebenfalls dem rechten Spektrum zuzuordnende Markus H. Nachdem E. zunächst gestanden hatte, als alleiniger Täter gehandelt zu haben, hatte er später erklärt, sie hätten beide Lübcke auf seiner Veranda aufgesucht. Markus H. habe die Waffe gehalten. Sie hätten Lübcke lediglich „zur Rede stellen wollen“. Es sei ein Gerangel entstanden, in dessen Verlauf sich „versehentlich“ ein Schuss gelöst habe. Nachdem diese Version des Tathergangs aus verschiedenen Gründen nicht länger haltbar war, gab er an, zwar selbst geschossen zu haben, jedoch sei H. bei der Tat anwesend gewesen. Da sich jedoch hierfür keinerlei gerichtsfest zu belegende Anhaltspunkte ergaben, war H. bereits am 1. Oktober 2020 aus der Untersuchungshaft entlassen worden; ein „dringender Tatverdacht“ der Beteiligung an der Tat sei nicht mehr gegeben. H. wurde nun „aus Mangel an Beweisen“ vom Vorwurf der Beihilfe freigesprochen. Er erhielt lediglich eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von 18 Monaten wegen unerlaubten Waffenbesitzes; die Untersuchungshaft von 15 Monaten wird auf diese Strafe angerechnet.
Meine Meinung: Das Gericht hat in seiner Pressemitteilung zu dem Urteil zunächst recht nachvollziehbar die Gründe für den Schuldspruch gegen Stephan E. und das gegen ihn verhängte Strafmaß dargelegt. Hiergegen dürfte – außer von Seiten eingefleischter Mitglieder der rechten Szene – auch kaum etwas eingewendet werden können. Recht überraschend kommt – wohl nicht nur für mich und die Familie Lübcke – jedoch die Entscheidung, Markus H. vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke freizusprechen. Bereits im Jahr 2020 veröffentlichte Recherchen legen nahe, dass H. an der Radikalisierung E.s einen nicht unmaßgeblichen Anteil hatte; das Gericht gibt an, es habe ihm dies nicht nachweisen können. Auch hat er ihm im Vorfeld der Tat Schießübungen ermöglicht (was das Gericht einräumt, ohne diesem Umstand eine entscheidende Bedeutung beizumessen). Haben die Richter hier nicht genau genug hingeschaut, oder haben sie sich von der Argumentation der zweifelsfrei der rechten Szene zuzuordnenden Verteidiger H.s einlullen lassen? Dass H. bei der eigentlichen Tat nicht anwesend war, dürfte sich trotz der gegenteiligen Ansicht der Familie Lübcke kaum widerlegen lassen. Aber was ist mit der gemeinsamen Vergangenheit der beiden Angeklagten? Spielt diese wirklich keine Rolle für den offenbar zwischen 2015 und 2019 immer deutlicher heranreifenden Entschluss E.s, Lübcke zu töten? Ein vom hr ausgestrahlter Film (noch bis zum 26.04.2021, 21.00 Uhr abrufbar) legt etwas anderes nahe. Wenn die darin dargestellten Vorgänge nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, dann sind nach meinem Verständnis die an die Beihilfe zu einer Tat zu stellenden Anforderungen erfüllt. Zuzugeben ist zwar, dass E.s Aussagen angesichts dreier unterschiedlicher von ihm präsentierter Versionen des Tathergangs jedenfalls für diesen Bereich wenig glaubhaft sind; aber muss das auf die Gesamtheit seiner Aussagen zutreffen? Ist es wirklich nicht möglich, die „Legende vom Einzeltäter“ mit den Mitteln des Strafprozesses aufzudecken und zu widerlegen? Auch der Prozess um das Synagogen-Attentat von Halle und der NSU-Prozess müssen sich vorwerfen lassen, die wahren Hintergründe der abgeurteilten Taten unaufgeklärt gelassen zu haben. Und der Versuch, die NSU-Affäre mit Hilfe von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen aufzuarbeiten, muss schon allein deshalb als gescheitert angesehen werden, weil wesentliche Teile der Akten des hessischen Verfassungsschutzes noch bis 2134 gesperrt sind. Wenn es mit den derzeitigen Regeln der Strafprozessordnung nicht möglich ist, derartige Hintergründe aufzuklären, dann ist es dringend erforderlich, entweder diese Regeln zu ändern oder anderweitige Möglichkeiten zu schaffen, die Hintergründe derartiger Taten auszuleuchten und die so als mitverantwortlich Identifizierten ebenfalls zur Rechenschaft zu ziehen. Anders wird es nicht gelingen können, den rechten Sumpf in Deutschland trockenzulegen.
Ergänzend zu dem erwähnten (wohl als halbdokumentarisch einzustufenden) im hr ausgestrahlten Film möchte ich noch auf eine am selben Abend ausgestrahlte Dokumentation hinweisen, in der die hr-Gerichtsreporterin Heike Borufka und der „hessenschau“-Prozess--Blogger Danijel Majic jeweils sehr subjektiv gefärbte Eindrücke aus dem Lübcke-Mordprozess präsentieren. Allerdings ist es schwierig, die Einzelheiten dieser Diskussioon lückenlos nachzuvollziehen, da an einigen Stellen hier die Bezüge der Darstellung für mit den Einzelheiten des Prozesses nicht vertraute Personen nicht hinreichend deutlich werden. Dieser Beitrag ist noch bis zum 26.01.2022, 16.55 Uhr, online gestellt.
„Querdenken“-Demo in Bremen verboten
Mit einer Eilentscheidung vom 5. Dezember 2020 verbot das Bundesverfassungsgericht (nach meiner Wahrnehmung erstmals) eine für den gleichen Tag geplante Demonstration der „Querdenken“-Bewegung in Bremen. Leider hat die Analyse der Entscheidungen der Vorinstanzen (VG und OVG Bremen) mehr Zeit als zunächst von mir erwartet in Anspruch genommen. Am 25. Dezember 2020 (wenn Sie so wollen als Weihnachtsgeschenk an die Nutzer dieser Website) kann ich nun deren Ergebnis veröffentlichen. Trotz des (in dem Abschnitt „Bewertung“ der Ausarbeitung näher beschriebenen) offensichtlichen Versuchs, die Bremer Behörden und damit auch die Gerichte über die tatsächlich mit der Demonstration verbundenen Absichten zu täuschen, haben sich weder die Bremer Versammlungsbehörde noch das Verwaltungsgericht und anschließend das Oberverwaltungsgericht über diese hinwegtäuschen lassen. Sie haben – vom BVerfG unwidersprochen – unter Zugrundelegung der bisherigen Erfahrungen mit Demonstrationen dieser Bewegung und deren Angaben zu der in Bremen geplanten Demo dargelegt, dass es ein milderes Mittel als ein Verbot dieser Demonstration nicht gab, weil die Einhaltung theoretisch durchaus möglicher Auflagen auch wegen erkennbar nicht gegebener Kooperationsbereitschaft des Veranstalters nicht zu erwarten war.
Über den eigentlichen Vorgang des Demonstrationsverbots hinaus ist es durch die umfangreiche Darstellung der von der „Querdenken“-Bewegung vorgetragenen Argumente in der VG-Entscheidung möglich, einen recht umfangreichen Einblick in die politischen Vorstellungen und damit auch das Menschenbild dieser Bewegung zu erhalten. Deren Ziele gehen ganz offensichtlich weit über die Ablehnung der Corona-Schutzmaßnahmen hinaus und erstrecken sich mindestens auf eine Infragestellung staatlicher Autorität(en). Aber lesen Sie doch einfach mal nach!
Update vom 26.12.2020: Einen Tag nach der Veröffentlichung dieses Artikels wird gemeldet, der Gründer der „Querdenken“-Bewegung, Michael Ballweg, habe eine Pause bei den bundesweiten Demonstrationen angekündigt und die Anhänger der Bewegung aufgerufen, nicht zu den um den Jahreswechsel herum geplanten, aber inzwischen verbotenen Demonstrationen in Berlin anzureisen. Er wolle „neue Kräfte sammeln“. Kleinere Demonstrationen sollten jedoch unter Einhaltung der jeweils geltenden Regeln durchgeführt werden.
Diese Nachricht verwirrt mich ein wenig. Hat Ballweg gemerkt, dass er und seine Bewegung auf dem bisher eingeschlagenen Weg nicht mehr weiterkommen, weil sie von den Gerichten in die Schranken gewiesen werden konnten? Bedeutet „neue Kräfte sammeln“ auch, eine neue Strategie, möglicherweise gar neue Ziele zu entwickeln? Hat er vielleicht gemerkt, dass die Unterwanderung seiner Bewegung von rechts für sie gefährlich werden kann (die Bewegung wird seit Anfang Dezember 2020 vom baden-wüttembergischen Verfassungsschutz beobachtet)? Wie auch immer: es scheint mit geboten zu sein, diese Bewegung und ihre Aktivitäten im Auge zu behalten und von ihr ausgehende Gefahren für das Gemeinwohl klar zu benennen. Selbstverständlich ist Kritik notwendig und sogar erwünscht. Sie muss aber sachlich fundiert sein und sich an die Regeln unseres demokratischen Rechtsstaats halten.
Demo in Leipzig läuft aus dem Ruder – wie konnte das passieren?
Für den 7. November 2020 hatte die den Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie kritisch gegenüberstehende Bewegung „Querdenken 711“ zum wiederholten Male zu einer Großdemonstration aufgerufen, um gegen diese zu protestieren – dieses Mal in Leipzig. Ursprünglich war eine Veranstaltung mit 20.000 Teilnehmern auf dem Augustusplatz angemeldet worden. Nach „Kooperationsgesprächen“ mit dem Veranstalter wurde die Teilnehmerzahl im Rahmen einer Verfügung der Stadt Leipzig vom 6. November 2020 auf 16.000 reduziert. Da zudem eine „Gefährdung Dritter“ gesehen wurde, sollte die Veranstaltung wie angemeldet am Augustusplatz stattfinden, wurde eine Verlegung zu den Parkplätzen an der Neuen Messe verfügt. Gegen die letztgenannte Entscheidung rief der Veranstalter das sächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Bautzen an. Im Wege einer Eilentscheidung erklärte dieses in der Nacht zum 7. November 2020 in Abänderung einer zuvor ergangenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Leipzig die Verlegung des Versammlungsplatzes für hinfällig. Die Auflagen hinsichtlich des Infektionsschutzes vor Covid-19 blieben jedoch ausdrücklich bestehen. Die Demonstration lief jedoch letztlich völlig aus dem Ruder.
Verständlich ist, dass die Gewaltexzesse, die sich nach der verfügten, aber nicht durchsetzbaren Auflösung der Demonstration abspielten, scharfe Reaktionen aus allen möglichen Richtungen hervorriefen. Auf wenig Verständnis stößt bei mir jedoch die in diesem Zusammenhang laut gewordene Kritik am Auftreten der Polizei. Diese hatte ja gerade mit der von der Stadt Leipzig verfügten Verlegung des Demonstrationsortes derartigen Entwicklungen entgegenwirken wollen. Schließlich war spätestens seit der ebenfalls eskalierten „Querdenken“-Demo in Berlin absehbar, dass auch hier wieder Auflagen massiv missachtet werden würden. Hätte sich also die Leipziger Polizei mit einem Großaufgebot Rechtsextremen und Hooligans entgegenstellen sollen, die sich – offenbar bestens vorbereitet – zum Marsch durch die Stadt aufmachten? Liebe Linken-Politiker*innen, liebe Frau Esken: Wie hätten die Beamten denn die Corona-Auflagen durchsetzen, wie den Marsch der Hooligans und die aus ihm sich ergebende Randale verhindern sollen? Durch den Einsatz von (Waffen-)Gewalt? Durch Blutvergießen? Wie wären dann Ihre Reaktionen ausgefallen? Ich stimme da sehr viel eher dem Unverständnis zu, das eine Reihe sächsischer Landes- und Leipziger Lokalpolitiker an der Entscheidung des OVG Bautzen aus der Nacht zum 7. November 2020 geäußert haben. Sicher: das aus dem Recht auf freie Meinungsäußerung folgende Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mehrfach betont, dass dieses Recht auch in Zeiten der Corona-Pandemie gewahrt bleiben muss. Es hat aber ebenso deutlich gemacht, dass jegliche Freiheitsrechte dort ihre Schranke haben (müssen), wo die Rechte Anderer oder die Belange der Allgemeinheit berührt sind. In diesem Zusammenhang finde ich es äußerst bemerkenswert, dass das OVG Bautzen zu seiner Entscheidung auch nicht den geringsten Hinweis auf die zu ihr führenden Erwägungen gegeben hat. Auch am 10. November 2020 ist auf seiner Homepage nur die weiter oben verlinkte Pressemeldung zu finden.
Mich lässt dies in völliger Ratlosigkeit zurück. Bereits mehrfach hat sich gezeigt, dass Zusagen der „Querdenken“-Bewegung hinsichtlich der Erfüllung von Auflagen zum Infektionsschutz nicht eingehalten wurden. Im Grunde ist dies auch gar nicht zu erwarten: schließlich richten sich die Demonstrationen gegen genau diese Maßnahmen; es wäre ja geradezu widersinnig, würden die Veranstalter gegenüber den Teilnehmern auf deren Einhaltung pochen. Auch an der Abgrenzung zur radikalen Rechten lässt es diese Bewegung – nicht zuletzt in Person ihres Begründers Michael Ballweg – durchaus zu wünschen übrig. Derartige Versuche sind jedenfalls in der Vergangenheit mehr oder weniger gründlich misslungen. Dies wird auch von Beobachtern der Demonstrationen, die sich mit dem Phänomen „Rechtsextremismus“ näher befassen, immer wieder bestätigt. Wer aber Rechtsextremisten auf von ihm verantworteten Demonstrationen duldet und es dann auch noch erkennbar versäumt, sich von ihnen klar zu distanzieren, der fördert den Rechtsextremismus! Das trifft auch für jeden zu, der in einer solchen Demonstration mittut. Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch ich halte einen Teil der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für fragwürdig und habe Zweifel, ob sie in Gänze mit unserem Grundgesetz in Einklang stehen. Und wenn das so ist, dann muss eine solche Auffassung auch auf Demonstrationen kundgetan werden dürfen. Wer aber – wie die „Querdenken“-Bewegung – gar nicht daran denkt, die von Gerichten für diese Demonstrationen erlassenen Auflagen einzuhalten, der verwirkt aus meiner Sicht sein Demonstrationsrecht. Und schamlos ist es dann auch, sich wie diese Bewegung dann noch das Deckmäntelchen der „Verteidigung des Grundgesetzes“ umzuhängen. Die im nachfolgenden Artikel beschriebene Unterwanderung scheint hier bestens funktioniert zu haben – auch wenn viele Menschen dies vielleicht nicht wahrhaben mögen!
Und darüber hinaus: Die deutschen Gerichte haben eine doppelte Aufgabe: Sie sollen gleichermaßen die Rechte der Bürger schützen und für die Einhaltung der Gesetze sorgen. Dass hierfür manches Mal eine Art Spagat erforderlich ist, wird wohl niemand wirklich von der Hand weisen wollen. Dennoch sollte erwartet werden können, dass bei aller notwendigen Abstraktion bei der Anwendung des Rechts auch (gesellschaftliche) Fakten Berücksichtigung finden. Bei allem Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz kann ich mich in diesem konkreten Fall des Eindrucks nicht erwehren, dass es den Richtern des OVG Bautzen bei dieser Entscheidung am Blick für die tatsächlichen Gegebenheiten rund um diese Rechtssache gemangelt hat. Und es ist schon ein wenig befremdlich, dass zu einer Entscheidung von dieser Tragweite – selbst wenn sie nächtens getroffen wurde – nicht der Hauch einer Begründung kommuniziert wurde und auch drei Tage später eine schriftliche Entscheidungsbegründung auf sich warten lässt. Eine solche Vorgehensweise kann dazu führen, dass das Vertrauen jedenfalls eines Teils der Bevölkerung in die korrekte Anwendung des Rechts erschüttert wird. Gerade in dieser Zeit ist aber eine solche Entwicklung wenig wünschenswert.
Update vom 5. Dezember 2020: Nach einer längeren Pause habe ich mich am 05.12.2020 erneut um diesen Vorgang gekümmert und bin nun auf den Volltext der Entscheidung des OVG Bautzen gestoßen. Aus dessen Lektüre ergeben sich einige interessante Aspekte:
1. Die Argumentation des Antragstellers gegen die Verlegung der Veranstaltung vom Augustusplatz auf die Parkplätze vor der Neuen Messe beinhaltet einen mehr oder weniger klaren Erpressungsversuch: Es wird vorgebracht, „er könne seine für den Augustusplatz geplante Technik nicht auf einen anderen Platz transferieren und werde seine Versammlung auch nicht auf der Neuen Messe durchführen. Im Ergebnis würden dann tausende Menschen in Leipzig sein und sich auf die anderen Versammlungen im Innenstadtbereich verteilen, ohne dass sie in irgendeiner Form kontrolliert oder geführt werden könnten.“ (S. 5 des Entscheidungstextes)
2. Nach (in der Entscheidungsbegründung näher benannten) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat der Anmelder einer Demonstration das grundsätzliche Recht, den Veranstaltungsort zu bestimmen. Von dieser Regel kann daher nur bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen (u.a. Sicherheitserwägungen) abgewichen werden. Nun ist bekannt, dass sich die diese Demonstration anmeldende „Querdenken“-Bewegung in erster Linie gegen die Beschränkungen wendet, die der deutschen Bevölkerung zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie auferlegt werden (jedenfalls ist dies die Eigendarstellung dieser Bewegung). Umso erstaunlicher mutet es jedenfalls mich an, wenn nun hinsichtlich der vom Verwaltungsgericht angeordneten Verlegung des Demonstrationsortes ins Feld geführt wird, es sei „nicht nachvollziehbar, dass das Verwaltungsgericht den besonderen Ortsbezug seiner [des Veranstalters] Versammlung nicht sehen wolle. Es gehe um das 2020 abgesagte, alljährlich auf dem Augustusplatz stattfindende und an die friedliche Revolution erinnernde Lichterfest, weswegen allen Teilnehmern im Aufruf zu der Versammlung aufgegeben worden sei, eine Kerze mitzubringen.“ (ebenfalls S. 5 des Entscheidungstextes)
In seinen grundsätzlichen Erwägungen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkungen des Demonstrationsrechts führt das OVG Bautzen im Wesentlichen eine Entscheidung des BVerfG vom 12.05.2010 an; dieser zufolge dürfe die Behörde keine zu geringen Anforderungen an bezüglich einer Demonstration zu erlassende Beschränkungen stellen. In dieser Entscheidung findet sich nun aber auch die folgende Einlassung: „Wenn sich der Veranstalter und sein Anhang allerdings friedlich verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit, insbesondere Gewalttaten, lediglich von Gegendemonstrationen ausgehen, müssen sich behördliche Maßnahmen primär gegen die störenden Gegendemonstrationen richten.“ (Randnr. 18) Das muss doch im Umkehrschluss bedeuten, dass Auflagen für eine Versammlung dann nicht ausgeschlossen sind, wenn von ihr selbst (und nicht von etwaigen Gegendemonstrationen) ausgehend anhand von Vorfällen bei vergleichbaren Anlässen gewaltsame Aktionen erwartet werden können. In diesem Zusammenhang ist nun wieder bemerkenswert, dass das OVG Bautzen sehr wohl auch die Gefährdung der Gesundheit Dritter als möglichen Anlass für Beschränkungen des Demonstrationsrechts sieht, diese Gefährdung jedoch einzig und allein auf den Schutz vor SARS-CoV-2-Infektionen bezieht. Es muss angesichts der Erfahrungen, die sich aus der oben bereits erwähnten Demonstration der „Querdenken“-Bewegung in Berlin herleiten ließen, zumindest die Frage erlaubt sein, ob die Richter des OVG Bautzen nicht trotz des zugegebenermaßen bestehenden Zeitdrucks bei dieser Entscheidung (offenbar trat das Gericht erst nach Mitternacht am Morgen des Demonstrationstags zusammen) nicht zu einer anderen Entscheidung hätten gelangen können, wäre die hier wiedergegebene Einlassung des BVerfG in der von ihnen selbst in Bezug genommenen Entscheidung gebührend berücksichtigt worden.
Zudem stellt sich die Frage nach einer hinreichend kritischen Würdigung des vom Veranstalter angegebenen Demonstrationszwecks (s.o. unter 2.). Angesichts der Tatsache, dass sich die Veranstaltungen der „Querdenken“-Bewegung in erster Linie gegen die Maßnahmen richten, die seitens der Bundesregierung und der Landesregierungen zum Schutz der Bevölkerung vor einer weiteren Ausbreitung der Covid-19-Pandemie angeordnet wurden, ist der vorgebrachte Bezug auf das ausgefallene Lichterfest und damit auf die friedliche Revolution von 1989 wenig glaubhaft, zumal bekannt ist, dass dieser Bezug in der jüngeren Vergangenheit gerne von Bewegungen missbraucht wird, die zwar ebenfalls eine Revolution im Sinn zu haben scheinen, nur ziemlich erklärtermaßen keine friedliche. Hier ist den Richtern des OVG Bautzen eine gewisse „Blauäugigkeit“ leider kaum abzusprechen. Dass es der Bewegung darüber hinaus ganz offenbar um eine Herausforderung des Staates bzw. seiner Organe (und nicht etwa nur um „friedliches Erinnern“) geht, dürfte der oben unter 1. dargestellte Erpressungsversuch deutlich machen: „Nehmt ihr uns unseren Veranstaltungsort, können wir für die Folgen nicht garantieren!“ Leider entzieht es sich meinen Beurteilungsmöglichkeiten, ob auf eine solche Argumentation überhaupt gesellschaftlich und juristisch adäquat hätte reagiert werden können. Es sollte jedoch ein Hinweis darauf sein, sich die Teilnahme an künftigen Veranstaltungen dieser Bewegung genauestens zu überlegen.
Einen Vorwurf müssen sich allerdings auch die Behörden der Stadt Leipzig gefallen lassen: Offenbar haben sie bei ihrem Antrag auf Verlegung der Veranstaltung auf die Parkplätze an der Neuen Messe die wirklich kaum nachvollziehbare Anzahl von „20.000 bis zu 50.000" zu erwartenden Demonstrationsteilnehmern ins Feld geführt. Nach den Ausführungen des OVG Bautzen ist nicht völlig auszuschließen, dass diese unrealistische Einschätzung mitentscheidend für den Beschluss war, die Verlegung des Demonstrationsortes rückgängig zu machen.
Wie Unterwanderung funktioniert
Am Abend des 10. Mai 2020 wurde im Ersten eine Reportage mit dem Titel „Infokrieger“ ausgestrahlt. Die Autoren geben tiefe Einblicke in die Funktionsweise rechter Propaganda in den so genannten „sozialen Netzwerken“ und decken u.a. auf, dass – anders als vielfach angenommen wird und auch von ihnen selbst erwartet worden war – jedenfalls in Deutschland hinter den viele Nachrichten verbreitende Accounts offenbar keine „Bots“, sondern reale Menschen stecken. Diese verbreiten meist keine eigenen Nachrichten, sie leiten vielmehr ihnen zusagende Inhalte weiter. Viele dieser Beiträge entstammen letztlich AfD-Quellen, aber auch Botschaften der „Identitären“ und der „Neuen Rechten“ finden häufig Verbreitung. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Youtube – entgegen eigenen Beteuerungen – seine Algorithmen im Jahr 2019 nicht geändert hat und diese nach wie vor dafür sorgen, dass Nutzer, die sich ein Video mit rechtslastigem Inhalt angesehen haben, mit weiteren Empfehlungen dieser Art versorgt werden. Das Video ist noch bis zum 10.05.2025, 23.59 Uhr, verfügbar. Zudem wird der Beitrag am 14.05.2020, 20.15 Uhr, auf One noch einmal ausgestrahlt.
Der Anlass
Am 8. Mai 2020 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum fünfundsiebzigsten Mal. Das Ende eines Krieges, der im Grunde auf den wahnwitzigen Ideen eines Mannes beruhte, der als Österreicher im Ersten Weltkrieg im Deutschen Heer kämpfte, die Niederlage Deutschlands in diesem Krieg nicht verkraften konnte, sich gegen das (sehr fragwürdige) Diktat des Versailler Friedensvertrags wehrte und Deutschland „zu neuer Größe führen“ wollte. Der Name dieses Mannes war: Adolf Hitler.
60 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – hatten seit dem 1. September 1939 den Tod gefunden, sechs Millionen Juden seit dem 30. Januar 1933, an dem Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war, ihr Leben verloren. Hitler hatte sich nach seinem Militärdienst sehr rasch der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) angeschlossen, bereits nach kurzer Zeit – offenbar nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeit, begeisternde Reden zu halten – deren Führung übernommen und sie in „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ (NSDAP) umbenannt. Er hatte sich spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und seiner Übersiedlung nach Deutschland zu einem glühenden Nationalisten entwickelt; wann genau er sich zum Antisemiten wandelte, ist unklar. Nach einem missglückten Putsch in Bayern am 9. November 1923 wurde er zu einer mehrjährigen Festungshaft verurteilt, die er dazu nutzte, seine Ideen niederzuschreiben; „Mein Kampf“ entstand.
Am 8. Mai 1945 schien dieser Spuk vorbei zu sein; nach nur etwas mehr als zwölf Jahren war das „tausendjährige Reich“ Geschichte. Der erste bedeutende deutsche Politiker, der es wagte, von diesem Kriegsende als einer „Befreiung“ zu sprechen, war am 8. Mai 1985 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Bereits damals gab es Stimmen, die ihm widersprachen. Die große Mehrheit der Deutschen dürfte ihm jedoch in seiner Ansicht gefolgt sein. Noch einmal 35 Jahre später wird in Deutschland nicht nur kontrovers darüber diskutiert, ob man diesen Tag nicht als Gedenktag zu einem bundesweiten Feiertag machen sollte; es gibt auch wieder eine Partei in Deutschland, deren Mitglieder jedenfalls zu einem nicht unbeachtlichen Teil ein Gedankengut zu verbreiten versuchen, das große Ähnlichkeiten und Parallelen zu jenem aufweist, das Deutschland letztlich in den Zweiten Weltkrieg, in die Niederlage, in den zunächst völligen Verlust seiner Souveränität und in die nationale Teilung führte. Eine Äußerung des Co-Vorsitzenden der Fraktion dieser Partei im Deutschen Bundestag, Alexander Gauland, im Zuge der erwähnten Diskussion veranlasst mich nun eingedenk des erklärten Ziels dieser Homepage, Populismus zu bekämpfen, eine Seite zu eröffnen, die sich ausdrücklich gegen diese Bestrebungen stemmt und entlarven will, dass diese Partei, die sich „Alternative für Deutschland“ nennt, eben keine Alternative für, sondern eine solche gegen Deutschland ist. Ein großer Teil ihrer Mitglieder will ein anderes Deutschland, eines, das wieder nur den (Volks-)Deutschen gehört, ein Deutschland, das sich nicht durch Toleranz, sondern durch Intoleranz auszeichnet (auch Hitler hat in einer seiner Reden ausdrücklich gesagt, er wolle intolerant sein), ein Deutschland, das ich so nicht möchte.
Der 8. Mai 1945 – kein Tag der Befreiung?
In der Diskussion um die Frage, ob der 8. Mai künftig – wie im Jahr 2020 einmalig im Bundesland Berlin – als ein Tag des nationalen Gedenkens an das Ende des so genannten „Dritten Reiches“ und damit der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Menschen verachtenden Ideologie zum Feiertag erklärt werden solle, hat der (Co-)Vorsitzende der Fraktion der „Alternative für Deutschland“ (AfD), Alexander Gauland, diesen Vorschlag mit dem Hinweis abgelehnt, dass dieser Tag zwar für die KZ-Insassen ein Tag der Befreiung gewesen sei. Doch weiter meinte er: „Aber es war auch ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit.“ Zwar gebe es Positives am 8. Mai, „aber die in Berlin vergewaltigten Frauen werden das ganz anders sehen als der KZ-Insasse“. (FAZ online vom 06.05.2020, 11.51 Uhr)
Meine Meinung:
Militärisch gesehen war der 8. Mai 1945 ein Tag der absoluten Niederlage. Doch für diese Niederlage trug ein einziger Mann die volle Verantwortung, der neun Tage zuvor nicht, wie im Radio verkündet worden war, im heldenhaften Verteidigungskampf um Berlin gegen die bolschewistischen Bösewichte sein Leben verloren hatte, sondern sich vielmehr selbst das Leben genommen hatte, weil er um alles in der Welt vermeiden wollte, für die von ihm begangenen Verbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden. Und es war eine Niederlage für eine absolut Menschen verachtende Ideologie, für eine durch nichts zu begründende Herrschaft der Intoleranz und der Gewalt. Insoweit war es ein Tag der Niederlage.
Diese Niederlage führte – auch darin hat Alexander Gauland recht – zum Verlust großer Teile von Deutschland und von Gestaltungsmöglichkeit (Deutschlands). Aber, lieber Herr Gauland, wer trägt denn die Verantwortung dafür, dass es zu diesen Entwicklungen kam? Einzig und allein der Mann, dessen zwölfjährige Schreckensherrschaft in Deutschland mit der Folge von 60 Millionen Toten Sie – ja, genau Sie – als einen „Vogelschiss der Geschichte“ zu bezeichnen geruhten. (Und nur ganz nebenbei: Es gibt auch keine „tausendjährige Geschichte“ Deutschlands, denn das „Reich“ bestand lange aus einem recht losen Gefüge von Kleinstaaten, die erst 1871 zum (Kaiser-)„Reich“ zusammengeschlossen wurden.) Es ist richtig, dass das Diktat des Versailler Friedensvertrags von 1919 ungerecht gegenüber Deutschland war, und es war sicher schmerzhaft, dass Gebiete des Deutschen Reiches von 1871 durch ihn verloren gingen. Aber einige dieser Gebiete waren ja selbst in Kriegen erobert worden und somit ebenfalls unrechtmäßig unter deutsche Herrschaft gelangt. Somit war die Geschichte Deutschlands keineswegs so „ruhmreich“, wie Sie es in ihrer Rede (und danach auch bei anderen Gelegenheiten) glaubhaft zu machen versuchten, und bei allen Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrages stellte er mit Sicherheit keinen Grund dar, einen Krieg zu beginnen, der Deutschland die Weltherrschaft einbringen sollte. Und er stellte erst recht keinen Grund dar, Menschen wegen ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung oder ihrer politischen Überzeugung ihrer Freiheit und sogar ihres Lebens zu berauben. Wäre dieser Krieg unterblieben, wäre auch diese Niederlage nicht eingetreten. Aber da die genannten Verbrechen ohne diesen Krieg vermutlich bis ins Unendliche weitergegangen wären, war dieser Krieg in diesem Sinne – und nur in diesem Sinne – vielleicht bei aller Grausamkeit und allem Leiden notwendig und heilsam. Dies auch deshalb, weil so viele Versuche fehlschlugen, Adolf Hitler erst zu verhindern und später zu beseitigen.
Ja, in der Folge dieser Niederlage verlor Deutschland (weitere) große Teile seines Gebietes, seine Souveränität und sogar seine staatliche Einheit. Und ebenfalls ja, die deutsche Bevölkerung musste während dieses Krieges und auch noch nach dessen Ende Leid ertragen, das ihr auf vielfältige Weise von den so genannten „Alliierten“ zugefügt wurde. Das war ungerecht, und dies wird jedenfalls rückblickend auch von vielen Menschen in diesen Ländern so gesehen. Sie sprechen von den „in Berlin vergewaltigten Frauen“, die das Ende des Krieges „ganz anders sehen [werden] als der KZ-Insasse“. Das könnte sogar zutreffen – ob das allerdings auch dann der Fall war, wenn diese Frauen von dem in den KZ herrschenden Grauen wussten, wird man jedenfalls in Frage stellen dürfen.
Insoweit, lieber Herr Gauland, kann von einigen Menschen dieser 8. Mai 1945 tatsächlich so empfunden werden, wie Sie ihn darzustellen versuchen; aber eben nur insoweit. Obwohl sie vor 35 Jahren gehalten wurde, sollten Sie einmal die Rede lesen, die der seinerzeitige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 gehalten hat; wenn Sie sie damals verfolgt haben sollten, lesen Sie sie bitte noch einmal. Heute noch mehr als damals – das ist meine feste Überzeugung – wird ein großer Teil der Menschen in Deutschland den 8. Mai 1945 wenn schon nicht als einen Tag der Befreiung, so doch als einen Tag des Neuanfangs und der Überwindung empfinden: der Überwindung von Hass, von Unfreiheit, von abgrundtiefem Misstrauen – und vor allem von Angst, von Todesangst.
Richard von Weizsäcker sagte in seiner Rede, der 8. Mai sei kein Tag zum Feiern. Das scheint denen unrecht zu geben, die im Jahr 2020 fordern, dieses Datum zum Feiertag zu erklären. Selbstverständlich hatte Richard von Weizsäcker recht: Gefeiert werden sollte dieses Datum von Deutschen sicher nicht. Aber es ist doch wohl legitim, 75 Jahre nach dem Ende dieses schrecklichen Krieges, der mit seinen Schrecken immer mehr in Vergessenheit zu geraten droht, über die Einrichtung eines Gedenktages nachzudenken. Und in diesem Sinne kann es trotz von Weizsäckers Worten durchaus berechtigt sein, über die Einrichtung eines (nicht Feier-, sondern) arbeitsfreien Tages an diesem Datum zumindest einmal nachzudenken.
Und Sie, lieber Herr Gauland, sollten einmal zusammen mit so manchen Mitgliedern Ihrer Partei über Worte nachdenken, die Richard von Weizsäcker fast am Ende seiner langen Rede vom 8. Mai 1985 gesprochen hat:
„Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“
Sie sind mitten unter uns!
Mitunter schaue ich nach, was es auf der Seite des Deutschen Bundestages für Online-Petitionen gibt. Die meisten sind für mich uninteressant, solche mit Themen, die einen Bezug zu Menschen mit Behinderung haben, stelle ich auf meiner Homepage „Politik für Menschen mit Handicap“ vor, und bei einigen beteilige ich mich entweder befürwortend oder auch ablehnend unter dem Pseudonym „Lebensschützer“ an der Diskussion. Zu der letztgenannten Kategorie gehörte die bis zum 30. April 2020 laufende Petition 107400. Mit ihr wurde gefordert „zu unterbinden, dass über das Internet mit Minimalaufwand nationalsozialistische Materialien bezogen werden können.“
In der Diskussion wurde zum einen darauf hingewiesen, dass diese Forderung auf eine Zensur des Internets hinausliefe, zum anderen wurde betont, dass diese Forderung gar kontraproduktiv sei. Auch ich hatte diese Ansicht vertreten und etwa darauf hingewiesen, dass es zur Bekämpfung einer Ideologie sehr hilfreich und daher notwendig sei, sie zu kennen. Folglich würde ein Verbot wie das mit der Petition angestrebte eine effektive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus behindern. Das aber könne wohl kaum im Sinne des Petenten sein.
Im Großen und Ganzen verlief die Diskussion zu dieser Petition erfreulich sachlich. Einen Tag vor dem Mitzeichnungsschluss wurde jedoch der nachfolgend wiedergegebene Beitrag veröffentlicht, auf den ich erst nach dem Ende der Mitzeichnungsfrist aufmerksam wurde, so dass eine Reaktion darauf leider nicht mehr möglich war:
„Alexander Kutschorra | 29.04.2020 - 00:22
Das mit der Formulierung ‚sämtlichen Bezug zu... verbieten‘ oder so ähnlich im Begründungstext finde ich auch echt irritierend. Also mir ist schonmal als Begründung dafür, warum eine Petition nicht veröffentlicht würde, mitgeteilt worden, dass sich davon keine interessante Diskussion versprochen würde oder so ähnlich und in Diskussionen kann man ja aneinander vorbeireden und wenn man sich das anschaut, was bei einer Petition zur Mitzeichnung gilt, den Petitionstext und die Begründung etwa als Entscheidungshilfe zur Ergänzung eigener Auffassung und Meinung zum Sachverhalt, dann fällt bei der Petition mal wieder auf, dass man wegen der Begründung über ein Thema diskutiert, das gar nicht das Thema im Petitionstext sein muss.
Als nationalsozialistisch, wenn nicht näher nach Paragraph bezeichnet, würde ich erstmal verstehen wollen, was mit sozial/sozialistisch wirklich zu tun hat, während es national begrenzt ist, was nötig ist, wenn Politik einer Nationalität (ein Staat) darüber entscheiden können möchte. Der Begriff ‚nationalsozial‘ wird ‚definitiv‘ oft falsch benutzt, wie aber auch das Wort ‚obwohl‘, das eigentlich mal eine Frage von oben herab über einen Zustand, der heutzutage damit bestätigt wird, gewesen ist. Auch irritiert ‚einstellen/einzustellen/eingestellt‘, was ja eigentlich etwas mit Justierung/Tuning/Einstellung zu tun haben könnte. Also da ist wirklich Stoff für interessante Diskussionen um das Petitionsthema, da der Petitionstext sehr spärlich.
Dokumentationen, auch über etwas, das (fälschlich) als Nationalsozialismus beschrieben wird, möchte ich mir nicht verbieten lassen, da auch Bildung.
Was noch an einer Diskussion über die Petition interessant wäre, wäre eine Theorie über die Möglichkeit, dass der Petent den Begriff ‚nationalsozial‘ von dem Falschen säubern mochte, wozu es aber in dem Begründungstext fehlen würde und deshalb ist nicht klar, wie lange ‚nationalsoziales‘ wirklich nicht übers Internet erreicht werden soll, bis man darunter vielleicht Angebote des deutschen Sozialstaates versteht und wieder zugänglich gemacht bekommt.
Es kann sein, dass der Begriff auch im Duden anders beschrieben werden müsste.“
Als nationalsozialistisch, wenn nicht näher nach Paragraph bezeichnet, würde ich erstmal verstehen wollen, was mit sozial/sozialistisch wirklich zu tun hat, während es national begrenzt ist, was nötig ist, wenn Politik einer Nationalität (ein Staat) darüber entscheiden können möchte. Der Begriff ‚nationalsozial‘ wird ‚definitiv‘ oft falsch benutzt, wie aber auch das Wort ‚obwohl‘, das eigentlich mal eine Frage von oben herab über einen Zustand, der heutzutage damit bestätigt wird, gewesen ist. Auch irritiert ‚einstellen/einzustellen/eingestellt‘, was ja eigentlich etwas mit Justierung/Tuning/Einstellung zu tun haben könnte. Also da ist wirklich Stoff für interessante Diskussionen um das Petitionsthema, da der Petitionstext sehr spärlich.
Dokumentationen, auch über etwas, das (fälschlich) als Nationalsozialismus beschrieben wird, möchte ich mir nicht verbieten lassen, da auch Bildung.
Was noch an einer Diskussion über die Petition interessant wäre, wäre eine Theorie über die Möglichkeit, dass der Petent den Begriff ‚nationalsozial‘ von dem Falschen säubern mochte, wozu es aber in dem Begründungstext fehlen würde und deshalb ist nicht klar, wie lange ‚nationalsoziales‘ wirklich nicht übers Internet erreicht werden soll, bis man darunter vielleicht Angebote des deutschen Sozialstaates versteht und wieder zugänglich gemacht bekommt.
Es kann sein, dass der Begriff auch im Duden anders beschrieben werden müsste.“
Meine Meinung:
Beim Lesen dieses Beitrages war ich zunächst irritiert, dann entsetzt: ‚Was soll dieser Beitrag?‘, fragte ich mich. Es handelt sich schließlich bei „Nationalsozialismus“ um einen absolut feststehenden, klar umrissenen Begriff für eine Menschen verachtende, den Frieden gefährdende Ideologie. Erst bei intensiverem Lesen wurde mir deutlich: Es geht diesem Beitrag um vorgebliches Sich-dumm-stellen, in Wirklichkeit aber ausschließlich um Verharmlosung: Erst soll „sozial“ definiert werden, dann wird gefragt, warum „sozial“ nicht „national“ gesehen werden kann, und anschließend wird gar die Bedeutung des Begriffes „Nationalsozialismus“, wie sie im Duden dargestellt wird, in Frage gestellt. Dumm nur, dass dort eine Beschreibung des Begriffs im eigentlichen Sinne gar nicht stattfindet...
Dies hat mir eines noch klarer gemacht, als es mir schon immer gewesen ist: Sie sind mitten unter uns! Und es sind eben nicht nur die Alexander Gaulands, die Björn Höckes und meinetwegen auch die Jörg Meuthens (in der Funktion „Wolf im Schafspelz“) – nein, es sind auch die anscheinend völlig Harmlosen, die, die so tun, als wüssten sie von nichts und könnten kein Wässerchen trüben: eben die Alexander Kutschorras! Und die scheuen sich nicht einmal, ihren Namen zu nennen (wobei man nicht weiß, ob er wirklich echt ist). Sie sind die wirklich Gefährlichen, sie gilt es zu finden und zu bekämpfen – neben denen, die auch genannt worden sind und ihnen ihr Futter geben.
Und noch etwas ist mir klar geworden: Manchmal muss man sich auch vor denen hüten, die Fragen stellen!