Quo vadis, Europa?
Was wird aus Europa?
Das Ergebnis der Wahl zum Europäischen Parlament vom 9. Juni 2024 hat (hoffentlich nicht nur) mich schockiert – speziell das in Deutschland (wobei auch das französische starke Beachtung verdient). Und fast noch mehr irritieren mich einige Einzelheiten dieses Ergebnisses und die Einstellungen von Menschen, die zu diesen Ergebnissen befragt wurden.
Doch der Reihe nach: Dass die Parteien der regierenden „Ampel“-Koalition verlieren würden, war ja realistischerweise zu erwarten gewesen. Dennoch hat mich der starke Verlust von Bündnis 90/DIE GRÜNEN ein wenig überrascht; ich hätte erwartet, dass deren Einsatz für die Bekämpfung der Folgen des Klimawandels, aber auch für die Unterstützung des Kampfes des ukrainischen Volkes gegen die russische Aggression stärker honoriert worden wäre. Hinsichtlich des letztgenannten Punktes muss ich aber wohl – mit einer gehörigen Portion Ernüchterung – zur Kenntnis nehmen, dass die Sehnsucht vieler Menschen in Deutschland nach einem eher fragwürdigen Frieden größer und stärker zu sein scheint als die Erkenntnis, dass ein solcher Frieden möglicherweise langfristig den Verlust von Freiheit und Demokratie bedeuten könnte (zu der Problematik, dass es durchaus verschiedene Vorstellungen bzw. Formen von „Frieden“ gibt und welche Folgen sich hieraus ergeben können, habe ich bereits im Februar 2023 mit Bezug auf eben diesen Krieg den Artikel „Welcher Weg kann Frieden bringen?“ veröffentlicht9.
Womit wir beim nächsten Punkt wären: dem Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in weiten Teilen Europas (und damit auch im Europäischen Parlament), speziell der AfD in Deutschland und des Ressemblement National (RN) in Frankreich. Zum einen zeichnen sich zumindest einige dieser Parteien durch eine Nähe zu Russland aus, was die Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Aggression mehr oder weniger massiv einschränken, wenn nicht gar gefährden könnte. Zum anderen leugnen rechtsgerichtete Parteien vielfach, dass der (dies nur eher nebenbei) sich besonders in Europa auswirkende Klimawandel wesentlich durch menschliche Aktivitäten verursacht ist und ihm folglich durch menschliches Handeln entgegengewirkt werden muss, um seine Auswirkungen auch für die Menschen in Europa noch in einigermaßen erträglichen Grenzen zu halten. Und last but not least wollen die meisten dieser Parteien jedenfalls von außerhalb Europas kommende Migranten aus ihren jeweiligen Ländern (und somit folglich aus [nahezu] ganz Europa) fernhalten – ohne Rücksicht darauf, dass diese zumindest in einigen Ländern dringend gebraucht werden, um deren Wirtschaft am Laufen zu halten.
Blicken wir wieder auf Deutschland und hier auf das Abschneiden der AfD. Obwohl diese Partei in drei Bundesländern (und ihre Jugendorganisation Junge Alternative [JA] in fünf Bundesländern) von den hierfür zuständigen Verfassungsschutzämtern als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird, obwohl die für diese Wahl auf die Listenplätze 1 und 1 gewählten Kandidaten, Maximilian Krah und Petr Bystron, wegen des Verdachts der Spionage für China bzw. der Korruption in Verbindung mit einem russischen Propagandamedium vollständig aus dem Europa-Wahlkampf dieser Partei herausgehalten wurden, und obwohl das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen bestätigte, dass diese Partei weiterhin als „rechtsextremer Verdachtsfall“ vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet werden darf, wurde sie bundesweit zweitstärkste und in allen Bundesländern, die 1990 dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beigetreten sind, stärkste Kraft. In den letztgenannten Ländern erreichte sie Werte zwischen 27.5 % (Brandenburg) und 31,8 % (Sachsen), in den Ländern der „alten“ Bundesrepublik erreichte sie zwischen 8,0 % (Hamburg) und 15,7 % (Saarland).
Doch damit nicht genug; über diese hohen Stimmenanteile hinaus haben mich zunächst zwei Werte zur Wählerstruktur dieser Partei besonders erschreckt: Zum einen haben aus der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen (wohlgemerkt bundesweit) 16 % AfD gewählt; das entspricht zwar einerseits dem Gesamtergebnis, ist aber insofern bemerkenswert als die Partei ihr Gesamtergebnis gegenüber der Europawahl 2019 um fünf Prozentpunkte steigern konnte, in dieser Altersgruppe jedoch elf Prozentpunkte hinzugewinnen konnte. Gerade diese Menschen hatte sich immer als die Europäische Union befürwortend hervorgetan, unter anderem weil diese für sie offene Grenzen und freies Reisen zwischen den Mitgliedstaaten bedeutete. Was bewegt nun einen solch großen Teil von ihnen zur Wahl einer Partei, die unter bestimmten Voraussetzungen für einen EU-Austritt Deutschlands („Dexit“) eintritt?
Beängstigend ist zudem, dass viele derjenigen, die die AfD wählen oder jedenfalls hierzu bereit sind, die Vorgänge um diese Partei herum offenbar nicht wirklich ernst zu nehmen scheinen. Eine auf die von der AfD auf einer Zusammenkunft rechtsgerichteter Kräfte in Potsdam unterstützten Pläne zur „Remigration“ angesprochene junge Frau erklärt in einem für die ARD-„tagesthemen“ vom 10. Juni 2024 produzierten Beitrag wörtlich: „Da geht es nicht darum, dass ich als dritte Generation irgendwie rausgeworfen werde aus Deutschland. Meine Eltern nicht, meine Großeltern nicht. Da geht es um die Leute, die irgendwie auffällig geworden sind, die nicht arbeiten wollen.“ Dass bei dem Potsdamer Treffen über einen Ort nachgedacht wurde, an dem auch Personen untergebracht werden könnten, „die sich für Geflüchtete einsetzten“ und wo „bis zu zwei Millionen Menschen leben könnten“, ist der jungen Dame offensichtlich nicht bekannt – ebenso wie der Umstand, dass es noch weit nach Hitlers Machtergreifung Juden gab, die der Meinung waren, so schlimm werde es schon nicht werden, um dann letztlich nicht mehr fliehen zu können und im Konzentrationslager ermordet zu werden.
Und schließlich Frankreich: Der Ressemblement National erhielt dort 31,4 % der Stimmen, die pro-europäische Bewegung von Präsident Emmanuel Macron mit 14,6 % nicht einmal die Hälfte. Als Reaktion auf dieses Ergebnis löste Macron noch am selben Abend die Nationalversammlung (das französische Parlament) auf und setzte deren Neuwahl für den 30, Juni (!) 2024 an. Die Franzosen sollen entscheiden, ob sie tatsächlich den nationalistischen Kurs der Partei von Marine Le Pen unterstützen oder doch lieber ihr Land als eine entscheidende Kraft für die Einheit Europas sehen wollen. Die französischen Linken haben sich bereits zu einem Bündnis gegen den RN und Macron zusammengeschlossen, Macron selbst sucht einigermaßen verzweifelt Verbündete, und die französischen Konservativen, die Republicains, droht es gerade zu zerreißen. Deren Vorsitzender, Ciotti, hatte am Dienstag nach der Europawahl angekündigt, ein Bündnis mit dem RN eingehen zu wollen – und wurde tags darauf vom Vorstand seiner Partei aus dieser hinausgeworfen, was er jedoch erst einmal nicht anzuerkennen bereit war (inzwischen hat ein Gericht ihm den Vorsitz bis zu einer endgültigen Entscheidung wieder zurückgegeben). – Der Ausgang dieses politischen Experiments muss als völlig ungewiss bezeichnet werden: während einige politische Beobachter es als einen Geniestreich Macrons sehen, bezeichnen ihn andere bereits als „Kamikaze-Präsidenten“. Erzielen die rechtsgerichteten Parteien bei der Parlamentswahl ein ähnliches Ergebnis wie bei der Wahl vom 9. Juni 2024, dann hätte er es mit einem Parlament zu tun, dass völlig andere politische Ziele als er selbst verfolgt. Und mehr noch: ein wichtiger Motor für die Einheit Europas würde ausfallen, die weitere Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Aggression wäre in Frage gestellt. (Zum besseren Verständnis: Es geht bei dieser Wahl nicht um seine Person bzw. sein Amt. Macron ist der bis 2027 gewählte Staatspräsident. Frankreichs. Aber seine Partei verfügt bereits in der aktuellen Nationalversammlung über keine eigene Mehrheit.)
Angesichts dieser Ergebnisse und ihrer (möglichen, nicht einmal unwahrscheinlichen) Folgen ist es nur ein schwacher Trost, dass in einigen Ländern die rechtspopulistischen, ‑nationalen bis ‑radikalen Kräfte Stimmenanteile verloren haben. Das war in den skandinavischen Ländern Schweden und Finnland, aber auch in Polen und nicht zuletzt in Ungarn der Fall, wo ein ehemaliger Parteigänger von Regierungschef Viktor Orban eine neue Partei gegründet und dafür gesorgt hat, dass dessen Fidesz-Partei das schlechteste Ergebnis seit Langem eingefahren hat. Das polnische Ergebnis ist wiederum zwiespältig zu betrachten: Zwar hat die pro-europäische Allianz von Ministerpräsident Donald Tusk die dort lange regierende nationalkonservative PiS auf den zweiten Platz verdrängen können (37,1 % gegen 36,2 % der Stimmen, 21 gegen 20 Sitze im europäischen Parlament), aber dafür wurde die Rechtsaußen-Partei Konfederacja mit 12,1 % der Stimmen und sozusagen „aus dem Stand gewonnenen“ 6 Sitzen drittstärkste Kraft.